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Titel: 60. Venedig Biennale - Analyse · von Ann-Katrin Günzel · S. 52 - 53
Titel: 60. Venedig Biennale - Analyse ,

60. Venedig Biennale 2024

Stranieri Ovunque / Foreigners Everywhere

Nach wie vor ist die Biennale di Venezia das unbestrittene Großereignis der zeitgenössischen Kunstwelt. Im April hat sie zum 60. Mal ihre Tore geöffnet und lädt damit auch dieses Jahr bis Ende November wieder hunderttausende internationale Besucher*innen in die Lagunenstadt ein.

Stranieri Ovunque / Foreigners Everywhere das Thema, das der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa für die diesjährige Biennale gewählt hat, könnte aktueller kaum sein. In einer Welt, die gerade dabei ist, sich aufzulösen, die durch Kriege und Umweltkatastrophen zerstört wird und in der die Angst vor dem „Anderen“ sich breit macht, ist das Gefühl, fremd zu sein, allgegenwärtig. Und gilt das Fremde auch als eine existentielle Erfahrung für alle, so betrifft es doch Menschen mit Migrationserfahrung, gesellschaftlich Ausgegrenzte und lange Zeit Vergessene in gesteigertem Maße, weshalb der Fokus der diesjährigen Biennale-Hauptausstellung auf 331 Kunstschaffenden aus dem Globalen Süden liegt, die indigen oder queer sind, im Exil leben oder lange Zeit übersehen wurden.

In der Verleihung der Goldenen Löwen und besonderen Auszeichnungen zeigte sich dieses Jahr ebenfalls eine Tendenz zu politischen Entscheidungen. So haben mit Nil Yalter und Anna Maria Maiolino zwei Frauen, die Erfahrungen von Migration und Exil in ihre Kunst eingebracht haben, den goldenen Löwen für ihr Lebenswerk gewonnen, Archie Moore bekam ihn für seine Arbeit kith and kin im Australischen Pavillon, wo er den Stammbaum der 65.000 jährigen Geschichte der indigenen Völker Australiens nachgezeichnet hat und das Mataaho Collective, bestehend aus vier jungen Maori Frauen aus Neuseeland für takapau, eine Installation aus Spanngurten, die bei Geburten der Maori benutzt werden.

KUNSTFORUM International hat die Eröffnung der Biennale wieder begleitet und aus der Vielzahl der Eindrücke und aufschlussreichen Gesprächen mit Künstler*innen und Kurator*innen den einzigartigen Sonderband als unerlässlichen Begleiter in Venedig zusammengestellt: gründlich recherchiert, ausführlich dokumentiert und kritisch reflektiert.

Heinz-Norbert Jocks hat mit dem Kurator der Hauptausstellung, Adriano Pedrosa, der sich selbst als einen „Außenseiter der Kunstgeschichte“ bezeichnet, ein ausführliches Interview geführt, in dem er mit ihm über den Titel Foreigners Everywhere und warum wir überall Fremde sind, gesprochen hat. Ellen Wagner hat ihre Gedanken zur Hauptausstellung in einem umfassenden Essay dargelegt, in dem sie die „Orte der Fremde(n)“ unter Bezugnahme auf einzelne Werke untersucht und das kuratorische Konzept, Repräsentant*innen einer Kategorie herauszustellen, hinterfragt. Ingo Arend betrachtet das Konzept eines „globalen Südens“ kritisch als „unscharfe Abkürzung für eine Reihe von Nationen […], die die ungerechte Struktur der derzeitigen Weltordnung überwinden wollen“ und vermisst die „inneren Wiedersprüche und reaktionären Abgründe dieses imaginären Kontinents“. Während Michael Hübl in seinem Essay die neu erwachte Italianità unter Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und „die Sorge, die in Rom regierende Koalition rechter bis extrem rechter Parteien könnte den Kulturbetrieb nach ihrem Gusto auf Linie bringen“ analysiert, hat Max Glauner nach zeitbasierten Raumkonstruktionen Ausschau gehalten und für die Ausstellungen der Lagunenstadt die Tendenz festgestellt, dass die Zauberworte dieses Jahr „Immersion und Performanz, Aufführung und Beteiligung des Publikums“ lauten.

Sabine B. Vogel berichtet außerdem von der überraschenden Löwenverleihung, Heinz-Norbert Jocks sprach mit Nil Yalter über ihre Exil-Erfahrungen und Sabine Maria Schmidt spürt der Materialität im Lebenswerk von Anna Maria Maiolino nach.

Als Auftakt zum Rundgang durch die 83 Länderbeiträge hat Heinz-Norbert Jocks zudem profunde Gespräche mit der Kuratorin Çağla IIk sowie mit den Künstler*innen des Deutschen Pavillons, der sich diesmal räumlich auf die nahegelegene Insel La Certosa ausgedehnt hat, gesprochen und sie zu ihrem Beitrag zum Thema der Schwelle befragt. Sabine B. Vogel hat weitere informative Hintergrundgespräche mit Künstler*innen der Länderpavillons geführt und leitet in vollständigen Rundgängen gemeinsam mit Heinz-Norbert Jocks, Uta M. Reindl, Sabine Maria Schmidt und Ellen Wagner durch die Hauptausstellung und die Länderbeiträge, umfangreich fotografiert von Wolfgang Träger und Damian Zimmermann.

Abschließend hat Julia Stellmann einige der parallel zur Biennale in Venedig stattfindenden Ausstellungen, z. B. in der LAS Art Foundation, in der Peggy Guggenheim Collection oder in San Giorgio Maggiore besucht und berichtet für uns.

von Ann-Katrin Günzel

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