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Magazin · von Tilman Baumgärtel · S. 502 - 502
Magazin , 2000

Der berühmteste unbekannte Künstler New Yorks

Seine letzten Briefe warf Ray Johnson in einen Briefkasten in Orient Point auf Long Island. Es war ein Freitag, der 13., im Januar 1995. Dann fuhr er mit seinem Auto Richtung Meer und kam dabei durch einige kleine Orte mit so geheimnisvollen Namen wie Sag Harbor, Shelter Island, North Haven, Baron’s Cove. Die Brücke, von der er sprang, hatte keinen Namen. Zwei Teenagerinnen sahen zu, als er durch das eiskalte Wasser auf dem Rücken langsam ins offene Meer hinausschwamm. Einige Stunde später wurde seine Leiche gefunden, die mit überkreuzten Armen im Wasser trieb.

Seinen Freunden und der Kunstpresse gab der Selbstmord von Ray Johnson reichen Stoff zur Spekulation. Schon die Namen der letzten Orte, die er in seinem Leben durchquert hatte, klangen wie seltsamen Anspielungen; Fingerzeige, die vielleicht – richtig gelesen – eine Erklärung für den unverständlichen Selbstmord des 68-jährigen amerikanischen Künstlers geliefert hätten. Einen Abschiedsbrief hat Johnson ironischerweise nicht hinterlassen – und das, obwohl er als der Begründer der Mail Art galt. Auch seine letzten Mail-Art-Arbeiten, die er am Tag seines Todes abschickte, enthalten keine Erklärung für seinen Freitod, keine noch so subtile Andeutung.

Johnsons enger Freund William S. Wilson schrieb nach seinem Tod: “Ray was on his way to drowning when I met him in 1956. It just took him 39 years to do it.” Vielleicht muss man alle seine Briefe, seine Mail Art und seine übrige künstlerische Produktion zusammennehmen, um seinen Selbstmord erklären zu können; vielleicht muss man alle seine Arbeiten kennen, um den…

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von Tilman Baumgärtel

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