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Titel: Grosse Gefühle · von Erich Kiefer · S. 185 - 205
Titel: Grosse Gefühle , 1994

Erich Kiefer
Emotionen

Menschen gehören zweifelsohne zu den emotionalsten und zu den intellektuellsten Tieren1 – zusammen mit ihren nächsten Verwandten wie Schimpanse und Gorilla sowie anderen höheren Säugetieren. Trotz dieser offensichtlichen Bedeutung emotionaler Prozesse in der Gesamtarchitektur der mentalen Prozesse dieser Tiere sind emotionale Prozesse bislang ein immer noch nur partiell verstandenes Phänomen. Nicht umsonst werden “Emotionen” von verwirrten Philosophen als Beleg dafür benutzt, daß sich in den Köpfen besagter Tiere irgendeine Art von Geisterbahn befinde und daß nichts erstrebenswerter sei, als die Flucht in jegliche Form von Irrationalität, weg von der so bösen Rationalität, haben besagte Philosophen doch erkannt (hundertprozentig sicher, versteht sich!), daß es weder die Realität gibt noch das Subjekt und daß man am besten nichts anderes tut als spielen (was natürlich vom Staat im Elfenbeinturm voll finanziert werden muß).

“Emotionen” eignen sich aber nicht nur als angeblicher Beleg zum Abdriften, sondern auch zu m.E. spannenden und wichtigen Fragestellungen wie:

Wie entstehen Gefühle als bewußt erlebte Emotionen? Mir ist aufgefallen, daß in allen Emotionstheorien (auch den philosophischen Thematisierungen) zwar immer von Gefühlen die Rede ist, aber nirgendwo die Frage formuliert wird, wie sie als bewußt erlebte Emotionen entstehen, geschweige der Versuch einer Antwort gewagt wird.

Emotionen als mentale Prozesse koppeln einerseits bewußte mentale Prozesse und andererseits Prozesse der molekularen Informationsverarbeitung, also phylogenetisch sehr junge mit sehr alten Prozessen. Wie funktioniert diese Koppelung und damit generell die Interaktion zwischen bewußten mentalen Prozessen und den hochkomplexen molekularen informationsverarbeitenden (IV-)Prozessen der Körperzellen?

Sind emotionale Prozesse mit KI-Methoden modellierbar, besonders Gefühle als bewußt erlebte Emotionen? Wie sind KI-Systeme mit Gefühlen zu konstruieren?

Wenn es möglich ist, KI-Systeme mit emotionalen Prozessen zu konstruieren, wozu sollte man das tun?

Im Folgenden werde ich zeigen, daß diese Fragen beantwortbar sind. Emotionen, insbesondere Gefühle als bewußte erlebte Emotionen, sind naturale, informationsverarbeitende Prozesse, sie sind als Teil von KI-Systemen modellierbar, und für solche Systeme gibt es durchaus sinnvolle Anwendungen. Und noch etwas hoffe ich zeigen zu können: Über der Beschäftigung mit Emotionen muß man nicht den Verstand verlieren.

Konzeptueller Rahmen

In den ersten Jahrzehnten vollzog sich ein Paradigmenwechsel in der Frage nach der ontologischen Natur der mentalen Prozesse des Menschen und anderer Tiere. Nach dem Scheitern aller Bemühungen, mentale Prozesse als spezielle Substanzen, Substanztransformation und als spezielle Energie und Energietransformation zu verstehen, setzte sich ein neues ontologisches Paradigma durch: in mentalen Prozessen Formen informationsverarbeitender Prozesse zu sehen.

Dieser Ansatz hat sich seitdem als außerordentlich fruchtbar erwiesen, auch wenn einige Philosophen – vor allem Meßdiener des Nazi-Philosophen Heidegger – immer noch auf der vergeblichen Suche nach mentalen Substanzen und mystischen mentalen Energien sind.

Der Übergang zum Informationsverarbeitungs-Paradigma bedeutete gleichzeitig auch eine Naturalisierung des Mentalen und in der Konsequenz eine Naturalisierung des Bewußtseins (siehe hierzu auch Quine 1969, Kiefer 1984, 1988 – jeweils im Literaturverzeichnis).

Auch für emotionale Prozesse konnte schließlich gezeigt werden, daß sie eine Form informationsverarbeitender Prozesse sind und sich somit genauso präzise beschreiben und modellieren lassen wie andere mentale Prozesse, z.B. Sprachverstehensprozesse oder Problemlöse- und Interferenzprozesse.

Beispielsweise werden im “Klassiker” der expliziten Modellierungen emotionaler Prozesse, dem Parry-System (siehe Colby 1975, 1978, 1981), nicht nur mehrere Arten emotionaler Prozesse modelliert, sondern auch deren Interaktion mit einer Vielzahl anderer mentaler Prozesse.

Weiter ist in Parry der Grad der Emotionalität des Gesamtverhaltens des Systems einstellbar, bis es schließlich so psychotisch emotional reagiert, wie es menschliche Paranoiker halt nun mal tun.

Parry zeigt zwar, daß emotionale Prozesse als IV-Prozesse modellierbar sind, bei genauerer Analyse zeigt erfolgen aber auch, daß noch grundsätzliche Defizite bestehen – in dem, was Parry nicht modelliert. Was Parry modelliert, sind emotionale Prozesse als intervenierende und unbewußte Prozesse, was Parry nicht modelliert, sind emotionale Prozesse als bewußt erlebte Emotionen – als Gefühle, als Teil einer introspektiv erfahrbaren mentalen Innenwelt.

Gerade das macht aber für Menschen den Stellenwert von Emotionen aus, daß sie Bewußtseinsinhalte bzw. subjektive Erfahrungstatsachen sind. Interessant ist nun, daß dies nicht nur ein Defizit von Parry ist, sondern von allen bekannten Emotionstheorien.

Keine Emotionstheorie kann erklären, was bewußt erlebte Emotionen im Unterschied zu Emotionen als intervenierendem, unbewußtem Prozeß sind, und vor allem, durch welche Prozesse bewußt erlebte Emotionen entstehen, wie es zu ihnen kommt. Und dabei ist die Frage nach dem “wie” die interessanteste Frage.

Im Folgenden werde ich zeigen, daß diese Frage nach dem “wie” beantwortbar und damit auch prinzipiell modellierbar ist.

Ein wichtiges Ergebnis der Forschungen der letzten Jahrzehnte ist die Einsicht, daß das komplexe mentale System des Menschen nur auf mehreren Ebenen beschreibbar, erklärbar und modellierbar ist. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen über Art und Anzahl der Ebenen. Newell, 1982, z.B. unterscheidet Wissensebene, Symbolebene und physikalische Ebene, während Marr, 1982, die Ebene der Datenverarbeitungstheorie, die Ebene der Algorithmen und Datenstrukturen sowie die Implementationsebene unterscheidet.

Es gibt gute Gründe dafür, zu einer an der Phylogenese mentaler Systeme orientierten Unterscheidung von Beschreibungs-, Erklärungs- und Modellierungsebenen zu kommen. Für das mentale System des Menschen sind mindestens folgende “Hauptebenen” notwendig:

Ebene des Handelns/Verhaltens

Ebene metakognitiver Prozesse, inkl. subjektiv-introspektiver Erfahrung

Ebene symbolischer Prozesse

Ebene subsymbolischer Prozesse über analogen Repräsentationen

Ebene emotionaler Prozesse

Ebene zentraler Verhaltensprogramme

Ebene der Reiz-Reaktionsmechanismen

Ebene molekularer IV.

Die Unterscheidung dieser Hauptebenen orientiert sich an der groben Abfolge der phylogenetischen Entstehung unterschiedlicher Formen der IV und wird damit der biologischen Realität gerechter als z.B. die Unterscheidungen von Newell und Marr.

Der Ebene des Handelns/Verhaltens kommt in diesem Schema ein Sonderstatus zu, da sie ja keine Form der IV beschreibt, sondern das aus der Interaktion aller anderen Formen der IV nach außen resultierende Gesamtverhalten. Jede der Hauptebenen, die für eine Form der IV steht, läßt sich wiederum gliedern in mindestens drei Subebenen:

Ebene der funktionalen Beschreibung

Ebene der Algorithmen und Datenstrukturen

Ebene der Implementation.

Beispielsweise lassen sich sehr unterschiedliche Formen der IV, wie Reiz-Reaktionsmechanismen oder symbolische IV-Prozesse, jeweils auf diesen drei Subebenen beschreiben, erklären und modellieren. Ob diese drei Subebenen ausreichend sind, muß zur Zeit noch als offene Fragestellung betrachtet werden.

Es ist offensichtlich, daß Hauptebenen wie Subebenen der Beschreibung, Erklärung und Modellierung mentaler Prozesse bislang in sehr heterogenen Wissenschaften beheimatet waren (und sind) – die Implementationssubebenen z.B. in Subdisziplinen der Biologie, wie Molekularbiologie, Neuroanatomie und Neurophysiologie. Die funktionalen Ebenen phylogenetisch älterer Formen der IV sind ebenfalls Gegenstand biologischer Subdisziplinen wie der Ethologie, während die funktionalen Ebenen phylogenetisch jüngerer Formen der IV Gegenstand von Subdisziplinen der Psychologie sind.

Die Subebenen der Algorithmen und Datenstrukturen sind wiederum Gegenstand der KI-Forschung, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt bei den symbolverarbeitenden Prozessen. Diese Liste ließe sich fortführen; sie zeigt, wie dissoziiert bislang die Forschung war und ist.

In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, mentale Phänomene des Menschen nur auf einer dieser Haupt- und Subebenen zu erklären, ein Unterfangen, das immer wieder scheiterte und auch notwendigerweise scheitern mußte. Gerade das Phänomen der Emotionen ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir zu einem befriedigenden Verständnis dieses Phänomens alle diese Beschreibungs-, Erklärungs- und Modellierungsebenen brauchen. – Von der Ebene emotionalen Handelns über die Ebene bewußt erlebter Emotionen bis zur Ebene der Implementation in neuronaler Hardware, inkl. der Interaktionen emotionaler Prozesse mit anderen Formen von IV-Prozessen, von molekularen IV-Prozessen bis zu Formen metakognitiver IV-Prozesse.

Da Emotionen phylogenetisch sehr alte mit phylogenetisch sehr jungen Formen von IV koppeln, ist zu einem befriedigenden Verständnis von Emotionen weiter eine phylogenetische Analyse ihres Werdens notwendig. Ein phylogenetischer Zugang kann uns helfen, auch ihre Aktualgenese besser zu verstehen.

Das alles läuft auf ein transdisziplinäres Vorgehen hinaus. Dieses transdisziplinäre Vorgehen ist erst recht notwendig, wenn es um die Modellierung emotionaler Prozesse in künstlichen intelligenten Systemen und um die Anwendungen solcher Modellierungen geht – hier zeigt sich, daß nicht nur die alten disziplinären Abgrenzungen innerhalb der Wissenschaften überholt sind, sondern auch die Abgrenzungen zwischen Philosophie, Wissenschaft, Technik und Kunst. Auch diese kulturellen Traditionen sind “Schubladen”, die längst zu eng geworden sind.

Noch eine epistemologische Randbemerkung: Informationsverarbeitende Prozesse sind als berechnende Prozesse konstruktiv, sie erzeugen, transformieren und eliminieren informationelle Objekte, wie z.B. Emotionen, Vorstellungen oder Bewußtsein. In diesem Sinn sind Gehirne konstruktiv, woraus aber in keinster Weise folgt, daß Gehirne die Realität bzw. die Wirklichkeit im strengen Sinn erzeugen. Zu den dümmsten und überflüssigsten Diskussionen der letzten Jahre gehört die von Maturana initiierte “Wirklichkeitsdiskussion”. Unter völliger Ignoranz gegenüber einer langen philosophischen Diskussion bis zu Putnams internem Realismus und Quines Selbstelimination der Philosophie wurden von Maturana Nervensysteme als solipsistische Welterzeugungsmaschinen postuliert, von denen jede ausschließlich in ihren eigenen Halluzinationen lebt – das Ganze dann garniert mit Behauptungen wie der, daß Nervensysteme anatomisch und funktional geschlossen sind. (Angemerkt sei hier, daß es für eine solche Behauptung auch nicht die geringste Spur empirischer Evidenz gibt.) Es ließe sich hier vieles zu Maturanas Position sagen; ich will mich auf ein ethisches Argument beschränken: In einer Zeit, wo eine Affenart namens Mensch dabei ist, diese Erde in eine Mischung aus Müllhalde und Leichenhalle zu verwandeln, ist es nur noch pervers zu glauben, es gäbe nichts Wichtigeres als die Diskussion darüber, ob es eine Wirklichkeit gibt. Hier stimme ich einmal ausnahmsweise mit Popper überein.

Begriffsklärungen

– Was meinen wir mit “Gefühlen”, “Emotionen” und anderen zentralen Wörtern und Begriffen?

Begriffsklärungen und Begriffsbestimmungen sind gerade im Dickicht der vielen kontroversen Theorien um das Phänomen Emotionen von besonderer Bedeutung, können sie uns doch helfen, uns vor Konfusionen zu bewahren, die sich ohne sie wohl zwangsläufig einstellen. Sie sind auch deshalb wichtig, weil leider gerade in der KI-Forschung eine Tendenz zu Begriffskonfusionen der besonders schlimmen Art zu beobachten ist. Krasse Beispiele hierfür sind das Begriffschaos, das Autoren wie Weyrauch (1980), Smith (1982) und besonders Maes (1987) um den altehrwürdigen Begriff der “Reflexion” inszenierten; diese Konfusion wurde dann in der BRD mit der “Knowledge Level Reflection” (Voß et al. 1990) fortgesetzt. Ein anderes Beispiel für die KI-spezifische Neigung zur Begriffskonfusion und zum “Wishful naming”, wie es Mc Dermott nennt, ist der “General Problem Solver” seligen Angedenkens. Erwartbar ist, daß demnächst mit dem Imaginationsbegriff dasselbe Konfusionsspiel veranstaltet wird.

Was ist nun unter “Gefühlen”, “Emotionen” etc. zu verstehen?

Bei allen Kontroversen, die sich um das Phänomen “Emotionen” herum entwickelt haben, scheint folgende Auffassung innerhalb der Psychologie, der Neurobiologie und der KI doch weitgehend konsensfähig zu sein:

Emotionen sind mentale Prozesse, die verhaltens- und handlungsbewertende, steuernde und kontrollierende Funktionen haben. Noch konsensfähiger (und noch vager) ist die Begriffsbestimmung, die in Emotionen Reaktionsmuster auf diskrete auslösende interne wie externe Ereignisse sieht.

Mit einer solchen Begriffsbestimmung ist zumindest festgestellt, daß Emotionen verhaltens- und handlungsformende Prozesse sind, daß sie nicht dysfunktional sind bzw. reine Epiphänomene, so wie es in einigen Ansätzen angenommen wurde (z.B. bei Woodworth 1938, Young 1943, Lazarus 1966). Dörner 1982, 1983, betont die verhaltens- und handlungsformende Rolle von Emotionen explizit, wenn er emotionale Prozesse ethoplastische Prozesse nennt.

Einer der wichtigsten Erkenntnisfortschritte in der Geschichte der Emotionstheorien liegt seit der Antike in der Erkenntnis, daß es notwendig ist, konzeptuell mindestens zwischen zwei Ausprägungen von Emotionen streng zu unterscheiden:

Emotionen als intervenierende interne mentale Prozesse, die prinzipiell vollständig ohne Bewußtsein ablaufen können.

Bewußt, subjektiv erlebte Emotionen. Mit dem Konzept “Gefühle” sind sowohl in der Common-sense-Psychologie wie in den meisten wissenschaftlichen Emotionstheorien bewußt erlebte Emotionen gemeint.

Die strikte Unterscheidung zwischen Emotionen als erschlossenem intervenierendem Prozeß und Gefühlen als bewußt, subjektiv erlebten Emotionen ist heute für die meisten Emotionstheorien konstitutiv (siehe z.B. Mandler 1975, Izard 1977, Leventhal 1980, Dörner 1982, Kuhl 1983, Scherer 1983, Wallbot + Scherer 1985, Shepherd 1992), auch wenn die Benennung für beide Begriffe noch etwas konfus ist. Beispielsweise benennen Wallbot + Scherer bewußt erlebte Emotionen als “Gefühl” sowie “erlebte Gefühle”, während Shepherd sie als “innere Emotionen” benennt. Entscheidend ist, daß mit “Gefühlen” bewußt, introspektiv erlebte emotionale Prozesse gemeint sind – wenn ein Mensch zu einem anderen sagt “Du, ich fühle eine panische Angst in mir, was soll ich machen?”, dann will dieser Mensch dem anderen sicherlich nicht mitteilen, daß er dieses Gefühl der panischen Angst aus einer eventuell auch noch methodisch sauberen Verhaltensanalyse von sich selbst erschlossen hätte oder durch Messung irgendwelcher physiologischer Parameter. Die Unterscheidung zwischen Gefühlen als bewußt erlebten Emotionen und Emotionen als prinzipiell vollständig unbewußt ablaufen könnenden Prozessen ist genauso wichtig wie alle korrespondierenden Unterscheidungen, z.B.:

– bewußt erlebte Denkprozesse versus unbewußte Denkprozesse

– bewußt erlebte Sehprozesse versus unbewußte Sehprozesse.

Mit dieser Unterscheidung entsteht natürlich ein Problem: Um Gefühle wirklich zu verstehen, zu erklären und zu modellieren, muß man das Problem des Bewußtseins lösen, und für die meisten Psychologen, Neurobiologen, Philosophen gibt es kaum einen schlimmeren Horror als das vertrackte Bewußtseinsproblem.

Eine weitere wichtige begriffliche Unterscheidung ist die zwischen “Emotionen” und “bewußt erlebten Emotionen” einerseits und dem “Fühlen” andererseits – in dem Sinn, daß “Fühlen” hierbei für Körperwahrnehmungen, Körperempfindungen bzw. für sensomotorische Wahrnehmungen steht.

Die Konfundierung zwischen “Gefühlen” und dem “Fühlen” hat eine ihrer Ursachen sicherlich in der Common-sense-Psychologie und in den natürlichsprachlichen Verbalisierungen der CS-Psychologie. Im Sprachgebrauch werden “Fühlen” (im Sinn von Körper- empfindungen) und “Gefühle” konfundiert (siehe Gruhle 1948, Laucken 1973), da die Wörter “Gefühl” und “Fühlen” sowohl zur Bezeichnung somatosensorischer Wahrnehmungen wie zur Bezeichnung von Emotionen verwendet werden können. Faktisch können Gefühle als bewußt erlebte Emotionen auch ohne somatosensorische Wahrnehmungen auftreten, andererseits sind Gefühle oft sehr eng mit somatosensorischen Wahrnehmungen verknüpft, was besonders bei Empfindungen wie Hunger, Durst und Schmerz die Trennung von den sie begleitenden Gefühlen schwermacht.2 (Das wußte schon Wundt, 1902.)

Wörter wie “Liebe”, “Neid” u.a. werden weiter sowohl zur Bezeichnung von Motiven verwendet wie als Bezeichnung für Emotionen, was eine weitere Quelle für Konfusion ist.

Konzeptuell trennt die Common-sense-Psychologie trotz der Konfundierung bei den Bezeichnungen Körperempfindungen von Emotionen und diese von Motiven sowie von “Eindrücken” – eine weitere Quelle von Konfusion auf der Bezeichnungsebene.

Emotionstheorien

In den letzten hundert Jahren wurden eine Vielzahl von Emotionstheorien entwickelt, deren allgemeines Manko das Bewegen zwischen theoretischen Scheinalternativen war. Die wichtigsten Gruppen dieser Emotionstheorien sind folgende:

Peripheralistische EmotionstheorienDiese Theorien führen Emotionen auf die Rückmeldung und Bewertung peripherer Körperreaktionen zurück. Hierzu gehören die Theorien von James 1890, Schachter + Singer 1962, Mandler 1975, Izard 1977 sowie anderen.

Zentralistische EmotionstheorienDiese Theorien erklären Emotionen über zentrale Prozesse im Limbischen System bzw. im Thalamus. Hierzu gehören die Theorien von Cannon 1929, Papez 1937, Mc Lean 1963, 1977, Zajonc 1980, Le Doux 1989 sowie anderen.

Kognitivistische EmotionstheorienIn diesen Theorien werden Emotionen als sekundäre Bewertungen vorab ablaufender komplexer kognitiver Prozesse bzw. als Resultat kognitiver Beurteilungsprozesse erklärt. Hierzu gehören Theorien wie die von Lindworsky 1923, Arnold 1960, Lazarus 1966, Weiner 1980, Averill 1980 sowie anderen.

Als Reaktion auf die unfruchtbaren Kontroversen zwischen theoretischen Scheinalternativen und durch Einsicht in die grundsätzlich nichtlineare Natur mentaler Prozesse entstand in den letzten zwanzig Jahren eine neue Gruppe von Emotionstheorien:

Systemtheoretisch-holistische EmotionstheorienDiese Theorien beschreiben emotionale Prozesse als Informationsverarbeitungsprozesse, die mit vielen anderen IV-Prozessen interagieren und nur in ihrer funktionalen Einbettung in komplexe IV-Prozesse verstehbar, erklärbar und modellierbar sind. Hierzu gehören Theorien wie die von Kuhl 1983, Scherer 1981, Bower 1981, Bower + Cohen 1982, Dörner et al. 1982, Dörner 1982, Dörner et al. 1983, Colby 1978, Faught et al. 1977, Colby 1981 sowie anderen.

Im Folgenden setze ich diese Theorien als bekannt voraus. Die Abb. Nr. 1 und Nr. 2 zeigen die von Bower und Cohen entwickelten Modellierungen emotionaler Bewertungsprozesse (Nr. 1) und der Interaktion von Emotionen mit anderen mentalen Prozessen (Nr. 2). Die am weitesten ausgearbeitete Theorie emotionaler Prozesse – im Sinne einer expliziten Modellierung emotionaler Prozesse als KI-System – ist die Theorie von Colby. Sie modelliert emotionale Prozesse explizit als Informationsverarbeitungsprozesse in Interaktion mit motivationalen Prozessen sowie kognitiven Prozessen im engeren Sinn – im Rahmen eines psychologischen Erklärungsmodells paranoiden Verhaltens. In der Implementierung von Colbys Theorie – es ist das bekannte “Parry”-System, siehe Colby 1975, 1981, Faught et al. 1977 – modelliert ein eigenständiges “Affekt”-System die emotionalen Prozesse des simulierten Paranoikers. Dieses Affekt-System kann u.U. die Kontrolle sowohl über die Informationsaufnahme aus der Umwelt wie über die Generierung von Handlungen übernehmen und dann jene Art von “Kurzschluß”- und “Affekthandlungen” generieren, die für paranoides Verhalten charakteristisch sind. Parry beinhaltet viele interessante und weiterentwickelbare Ansätze in seinem Affektsystem. Beispielsweise nehmen die Affektvariablen für “Zorn”, “Furcht” und “Mißtrauen” bei positiven Reaktionen seines Gesprächspartners verschieden schnell ab; weiter hängt die semantische Interpretation der Reaktionen seines Gesprächspartners von der Höhe der Affektvariablen ab. Ein Satz wie “Ich verstehe dich” wird bei hohen Werten für “Furcht” und “Zorn” als unaufrichtig interpretiert.

Interessant ist auch, daß Parry bislang das einzige KI-System ist, das eine eingeschränkte Version des Turing-Tests bestanden hat. Bei aller Kritik, die man an Parry üben kann, eines zeigt dieses System auf überzeugende Weise: Emotionale Prozesse sind eine Form von Informationsverarbeitungsprozessen und als solche modellierbar.

Folgende Dialogsequenzen zeigen Parrys Fähigkeit, emotionales Verhalten/Handlungen in Form sprachlicher Handlungen zu generieren:

Doktor: Guten Tag. Mein Name ist Doktor Jonas.

Parry: Erfreut, Sie zu treffen.

Doktor: Wie geht es Ihnen?

Parry: Ganz gut, denke ich.

Doktor: Ich dachte, Sie hätten einige Probleme.

Parry: Ich war vor kurzem sehr verärgert.

Doktor: Wodurch?

Doktor: Wie fühlen Sie sich jetzt?

Parry: Ich bin einigermaßen verärgert.

Doktor: Wie fühlen Sie sich mir gegenüber?

Parry: Wissen Sie überhaupt, was Sie tun?

Parry ist als vollständig implementiertes KI-System. Als Produktionssystem realisiert, beschreibt und modelliert es demnach mentale Prozesse als symbolverarbeitende Prozesse, und das eher “grobkörnig” (im Unterschied zu vielen heutigen KI-Systemen, die mentale Prozesse mit einem viel größeren Auflösungsgrad modellieren). Erforderlich sind allerdings Modellierungen emotionaler Prozesse, die diese bis auf die Ebene der neuronalen Implementation modellieren. Daß dies prinzipiell möglich ist, zeigen neuere Arbeiten, vor allem zur frühen visuellen Wahrnehmung; siehe z.B. die Arbeiten zur Siliziumretina oder die Arbeiten von Grossberg.

In Hinton, 1991, wird gezeigt, wie allgemein symbolverarbeitende Prozesse in neuronalen Netzwerken ausgeführt werden können. Für eine Forschungsstrategie, die über symbolverarbeitende Model- lierungen zur neuronalen Implementationsebene kommen will, sind die Ansätze in Hinton von großer Bedeutung. Das Ziel der Modellierung auf der neuronalen Implementationsebene ist auch deswegen wichtig, weil erst hier empirisch überprüfbare Hypothesen über den Zusammenhang von Struktur und Funktion der berechnenden Elemente möglich sind. Wie die bisherige Erfahrung zeigt, besteht bei tierischen Nervensystemen, insbesondere den Säugergehirnen, eine enge Kopplung von Struktur und Funktion – im krassen Unterschied zu Von-Neumann-Computern -, so daß auf der Implementierungsebene emotionaler Prozesse eine Art “wechselseitiger” Evidenzverstärkung bzw. Lernprozeß in der Forschung erwartbar ist.

Weiter will ich hier nicht auf Parry eingehen, siehe hierzu auch Kiefer 1980, 1981.

Allgemein ist festzustellen, daß die systemtheoretisch-holistischen Modelle emotionaler Prozesse bei allem Fortschritt gegenüber früheren Ansätzen immer noch erhebliche Defizite aufweisen, die ihre Ursachen u.a. in ihrer disziplinären Beschränktheit haben.

Phylogenese von Emotionen

Alles, was biologische Organismen ausmacht, ist Ergebnis der Evolution – vom simpelsten Viroiden bis zu den kulturellen Leistungen einiger höherer Affenarten wie Schimpanse und Mensch. Diese Aussage erscheint trivial, m.E. ist sie aber von weitreichender Bedeutung, impliziert sie doch, daß wir das faktische So-und-nicht-anders-Sein beliebiger biologischer Phänomene erst dann wirklich verstanden haben, wenn wir seine Phylogenese verstanden haben. Beispielsweise sind die Retinas in den Augen aller Wirbeltiere funktional falsch gebaut – das Licht muß erst durch mehrere Zellschichten, bevor es perzipiert wird. Bei Kopffüßlern z.B. ist das anders. Ihre Linsenaugen sind funktional “richtig” konstruiert. Warum Wirbeltieraugen so und nicht anders konstruiert sind, ist nur erklärbar durch die Rekonstruktion ihrer Phylogenese, wo sich zeigt, daß sie ausgelagerte Teile des Gehirns sind – deswegen befinden sich mehrere Neuronenschichten im Auge -, wobei die Photorezeptoren phylogenetisch von Rezeptoren abstammen, die zum Zweck des Richtungssehens so funktionierten, daß das Licht erst durch sie hindurchlaufen mußte, bevor es perzipiert wurde. Deswegen sind Wirbeltieraugen invers aufgebaut; siehe hierzu Kiefer 1976, 1984. Beispiele dieser Art lassen sich beliebig vermehren, sie bestätigen, was Dobzhansky (1977) so formulierte: “Nichts in der Biologie macht einen Sinn, außer man betrachtet es im Lichte der Evolution.”

Diese Aussage gilt natürlich auch für emotionale Prozesse. Sowohl deren Funktionalität wie deren Implementation in neuronaler Hardware werden wir erst dann wirklich verstanden haben, wenn wir ihre Phylogenese rekonstruieren können. Darüber hinaus kann uns die Rekonstruktion der Phylogenese von Emotionen helfen, überhaupt erst mal zu einem brauchbaren Modell der Funktionalität emotionaler Prozesse zu kommen, indem wir versuchen, so etwas wie den “einfachen Fall” emotionaler Prozesse zu finden und an diesem die Funktionalität zu verstehen. Arbeiten zur Phylogenese von Emotionen gehen bis auf Darwin (1872) zurück.

Weitergeführt wurde dieser Ansatz nur von wenigen, u.a. von Mc Lean (1963, 1977) sowie von Zajonc (1980) und Plutchik (1980). Für eine Theorie der Phylogenese von Emotionen ist nur der Ansatz von Mc Lean teilweise brauchbar, obwohl auch er erhebliche Mängel aufweist; z.B. behauptet Mc Lean, daß es nur sehr wenige Verbindungen zwischen dem Limbischem System und dem Neocortex gäbe. Heute wissen wir, daß genau das Gegenteil der Fall ist.

Die Evolution der Organismen ist gleichzeitig auch eine Evolution von Formen der Informationsverarbeitung. Das gilt schon für den Beginn der biologischen Evolution, wie es Eigen (1971) u.a. zeigen konnten; siehe hierzu auch Kiefer 1984. Versucht man die Evolution von Formen der Informationsverarbeitung grob in Phasen zu unterteilen, ergibt sich folgendes Bild:

Entwicklung von Formen molekularer IV

Entwicklung von Reiz-Reaktionsmechanismen

Entwicklung von zentralen Verhaltensprogrammen

Entwicklung von emotionalen Prozessen

Entwicklung von komplexen kognitiven Prozessen, speziell Denkprozessen, auf der Basis analoger Repräsentationen

Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse auf der Basis abstrakt-symbolischer Repräsentationen

Entwicklung komplexer Formen von Metakognition, insbesondere bewußte, reflexive und introspektive Prozesse.

Diese Einteilung dient nur einer groben Orientierung, sie ist nicht als klar zeitlich abgrenzbares Nacheinander zu verstehen; beispielsweise sind reflexive und introspektive Prozesse auf der Basis analoger Repräsentationen sehr wahrscheinlich vor der “Erfindung” abstrakt-symbolischer Denkprozesse entstanden. Diese Abfolge der Phasen ist am besten zu lesen als grobe zeitliche Abfolge der wichtigsten “Erfindungen” der Evolution im Bereich informationsverarbeitender Prozesse.

Von grundlegender Bedeutung ist m, daß die Evolution informationsverarbeitender Prozesse kein linear fortschreitender Prozeß ist im Sinne einer Optimierung oder einer Ablösung alter Prozesse durch neue. Eher das Gegenteil ist der Fall: Alte Formen der IV blieben neben den neu entwickelten Formen der IV weiter bestehen. Beispielsweise blieben die Formen molekularer IV neben den sich später entwickelnden Formen von Reiz-Reaktionsmechanismen bestehen, und auch in höheren Tieren wie dem Menschen existieren diese Formen der IV immer noch. Generell kam es in der Evolution von Formen der IV immer nur zu einer partiellen Integration alter Formen der IV mit sich jeweils neu entwickelnden Formen der IV.

Insgesamt sind die Systeme der IV, wie sie bei Tieren, vor allem bei höheren Tieren, vorkommen, Akkumulationen, Transformationen und partielle Integrationen sehr unterschiedlicher Formen der IV bzw. von funktionalen Systemen und allgemein von Mechanismen der IV, die im Verlaufe von etwa vier Milliarden Jahren in sehr unterschiedlichen Umwelten zur Bewältigung vielfältiger Anforderungen entwickelt wurden.

Ich denke, daß es wichtig ist, sich das immer wieder klarzumachen – die Systeme der IV bei Tieren sind “geniales Flickwerk”, ein Ergebnis der Evolution und nicht am Reißbrett eines “göttlichen Konstrukteurs” entstanden.

Zu den einzelnen Phasen:

Die ersten zwei bis drei Milliarden Jahre der biologischen Evolution brachten als Ergebnis eine Vielfalt von Formen molekularer Informationsverarbeitung hervor, angefangen von einfachsten Formen (z.B. in sog. katalytischen Hyperzyklen) bis zu komplexen Formen (z.B. homöotische Gene mit globalen Steuerungsfunktionen, Formen komplexer intrazellulärer Kommunikation, Taxien, komplexe Reiz-Reaktionsketten bei hochentwickelten Protisten).

Mit der Entwicklung der ersten Vielzeller, speziell in der Entwicklungslinie der Tiere, wurden auf der Ebene der Zellen neue Formen der Informationsverarbeitung entwickelt: Formen der interzellulären Informationsverarbeitung, die zu funktional spezialisierten Zellen für die IV führten, wie Hormonzellen und Nervenzellen. Mit der Entstehung der Nervennetze, z.B. in der Entwicklungslinie der Chordaten, wurden neue Formen der IV auf zellulärem Niveau entwickelt: dezentral organisierte, kurze, schnelle, reflexartig funktionierende Reiz-Reaktionsmechanismen, die ihrerseits spezialisierte Rezeptorzellen und Effektorzellen integrierten.

Tiere mit zentralen Nervensystemen entwickelten sich unabhängig voneinander in mehreren Entwicklungslinien; eine war die Chordatenlinie. Einfache Formen des ZNS stellten eine neue Subform der IV dar: zentral (im ZNS) organisierte, kurze und schnelle Reiz-Reaktionsmechanismen.

Die Entwicklung von Gehirnen, die unabhängig voneinander in vielen Entwicklungslinien erfolgte, ermöglichte wiederum eine neue Form der IV: die Verhaltensregulation über zentral organisierte, mehr oder weniger komplexe Verhaltensprogramme (diese werden auch wie folgt benannt: “Erbkoordinationen”, “zentrale Verhaltensprogramme”, “fixed action pattern”). Zentrale Verhaltensprogramme sind in der Regel hierarchisch organisierte Programme zur Realisation komplexer, artspezifischer und weitgehend genetisch determinierter Verhaltensweisen, wie z.B. Nahrungserwerbsverhalten, Territorialverhalten, Thermoregulationsverhalten und Fortpflanzungsverhalten. Durch Lernprozesse sind diese Verhaltensprogramme nur in eingeschränkter Weise veränderbar. Innerhalb der Wirbeltierevolution wurde diese Form der IV bei den Fischen und später den Amphibien entwickelt, anatomisch in der Medulla oblongata und vor allem im Mittelhirn. Wie wir heute wissen, ist das Wirbeltiergehirn in seiner Grundstruktur schon zu Beginn der Wirbeltierevolution entwickelt worden. Dies impliziert, daß bereits vorhandene anatomische Strukturen des Wirbeltiergehirns in der Evolution ihre Fuktionen gewechselt, neue Funktionen übernommen und alte Funktionen ausdifferenziert haben. Beispielsweise ist der Hippocampus eine phylogenetisch sehr alte Struktur, die aber bei den Fischen nicht die Gesamtfunktion hat, die sie beim Menschen hat. Die anatomischen Zuordnungen sind in diesem Sinn zu verstehen. In der Medulla oblongata entstand ein erstes Integrationszentrum, das neben sensorischen Verarbeitungsmechanismen zentrale Programme für die Generierung vieler Verhaltensweisen integrierte: Programme für Kauen, Schlucken, Erbrechen, für Flucht- und Angriffsverhalten u.a. Verhaltensweisen sowie für vegetative Funktionen wie Atmung, Blutdruck, Herz-Kreislauf-Regulation etc. Hinzu kommt ein zentrales aktivierendes System: Phylogenetisch später – bei Knochenfischen und Amphibien – entstand im Mittelhirn ein erstes zentrales Integrationszentrum mit weiterentwickelter multisensorischer Integration. Hierzu gehörten auch die größten Teile des alten visuellen Systems, das allerdings erst eine einfache Form des Bildsehens ermöglichte.Von Bedeutung ist nun, daß die Steuerung und Kontrolle der Verhaltensprogramme noch zu einem großen Teil über lokale Mechanismen erfolgten, was sich an Teilprogrammen des Fortpflanzungsverhaltens (wie dem Aufreiten und der Lordose) gut zeigen läßt.

In der Evolutionslinie von den Amphibien über die Reptilien bis zu den frühen echten Säugetieren entstanden neue zentrale Integrationszentren:- im Hypothalamus- im Limbischen System, bestehend aus Amygdala, Septum, Gyrus cinguli, Hippocampus u.a. Strukturen.Aus dem Hypothalamus wurde in dieser Evolutionslinie ein neues übergeordnetes Integrationszentrum für das vegetative oder autonome Nervensystem, das endokrine System, das Immunsystem und für das sensomotorische Nervensystem. Die Zusammenfassung der Steuer- und Kontrollmechanismen dieser verschiedenen Systeme ermöglichte eine optimierte Koordination dieser Systeme untereinander und deren Integration in neuentwickelte Steuer- und Kontrollmechanismen für die zentralen Verhaltensprogramme. Wesentliche Bestandteile dieser Mechanis- men sind Trigger-, Stopp- und Kontrollmechanismen für die zentralen Verhaltensprogramme (wie Sexualverhalten, Aggressionsverhalten oder Nahrungserwerbsverhalten), mit denen diese Verhaltensprogramme und alle mit ihnen verbundenen notwendigen Regulationen der inneren Organfunktionen ausgelöst, koordiniert, kontrolliert und beendet werden können.

Mit der Entwicklung des Limbischen Systems3 entstand ein weiteres, übergeordnetes Integrationszentrum für die Verhaltensorganisation. Nach allem, was wir wissen, ist in diesem System eine neue Form informationsverarbeitender Prozesse zum Zweck der Verhaltensregulation erfunden worden: emotionale Prozesse – Millionen Jahre bevor es Bewußtseinsprozesse in einem engeren Sinn gab.Das Limbische System besteht aus einer Reihe von Strukturen, die sich zwischen Vorderhirn und Zwischenhirn befinden: Amygdala, Hippocampus, Gyrus cinguli, Septum u.a. Es entwickelte sich als neues Integrationszentrum wahrscheinlich etwas später als der Hypothalamus, andererseits verlief diese Entwicklung auch zeitlich parallel und ging weiter (in der Säugetierevolution), während die neuen Hypothalamusstrukturen und -funktionen konserviert wurden. Parallel zu dieser Entwicklung entstanden im Vorderhirn völlig neue Systeme, wie ein neues visuelles System, ein neues somatosensorisches System usw. In der Zeitphase der Entwicklung von Hypothalamus und Limbischem System als neuen Integrationszentren war diese Vorderhirnentwicklung noch im Anfangsstadium; z.B. ging die Leistung des neuen visuellen Systems im Vorderhirn beim Bildsehen noch kaum über die Leistung des alten visuellen Systems im Mittelhirn hinaus.Weitere wichtige Entwicklungen in der Säugetierevolution waren neue komplexere Formen des Sozialverhaltens und von sozialen Strukturen sowie die Ausbildung von Formen des Lernens, die über Konditionierung und Habituation hinausgingen, wie genetische Lernprogramme und allgemein höhere komplexe Lernformen.Äußerer Rahmen dieser Entwicklung war einerseits das Aufkommen einer für die Säugetiere bedrohlichen Konkurrenz – der Dinosaurier -, die die Säugetiere als dominierende Gruppe für über 150 Millionen Jahre ablösten (säugetierähnliche Reptilien und frühe Säugetiere waren vor den Dinosauriern die dominierenden Landwirbeltiere); hinzu kamen schwerwiegende und schnell erfolgende Veränderungen der Umweltbedingungen. In diesem Kontext der Ko-Evolution von Wahrnehmungsprozessen, Lernprozessen, Verhaltensprogrammen, Sozialverhalten, physiologischen Veränderungen wie der Endothermie entwickelte sich eine neue Form von Bewertungs-, Kontroll- und Steuerprozessen – emotionale Prozesse -, die den frühen Säugetieren ein wesentlich flexibleres Verhalten ermöglichten, als das bei ihren Vorfahren mit deren relativ starren Kopplungen von angeorenen Auslösemechanismen (AAMs) und zentralen Verhaltensprogrammen der Fall war. Vor allem ermöglichten sie ein Überleben gegenüber der Dinosaurierkonkurrenz.

Daß eine der Funktionen von emotionalen Prozessen die ist, daß sie oft komplexe Bewertungsfunktionen sind, darin stimmen heute die meisten Emotionstheorien überein (siehe u.a. Averill 1980, Scherer 1981, Bower + Cohen 1982). Von Bedeutung ist nun, daß emotionale Prozesse als Bewertungsprozesse nach vielen Kriterien bewerten, die endogenen wie exogenen Sachverhalten gelten, daß sie in variablem Maß diese Bewertung zeitlich integrieren und daß diese Bewertung sich in einem Kontinuum von eher spezifisch auf ein Verhaltensprogramm bezogenen Bewertungen bis zu unspezifischen Bewertungen bewegen kann. Von Bedeutung ist weiter, daß emotionale Prozesse nach genetisch vorprogrammierten Kriterien bewerten; insofern sind emotionale Prozesse u.a. genetisch programmierte Bewertungen der Gesamtsituation des Organismus, differenzierbar nach endogenen und exogenen Anteilen.

Unspezifische Bewertungen gelten zum einen der Dimension “unbekannt/bekannt” und zum anderen den Dimensionen “gut/schlecht” sowie “Lust/Unlust”. Die Bewertung nach der Dimension “unbekannt/bekannt” generiert abhängig von weiteren Faktoren Emotionen wie “Interesse”, “Überraschung”, “Schrecken”, “Furcht”. An diesem Bewertungsprozeß, der Vergleichs- bzw. Prüfprozesse auf “Neuheit/Bekanntheit” beinhaltet, ist wahrscheinlich der Hypocampus entscheidend beteiligt.

Hinter der Bewertung “Lust/Unlust” steht eine besonders raffinierte Erfindung der Evolution: ein Belohnungs- und ein Bestrafungssystem. Belohnungs- wie Bestrafungssystem funktionieren als positive wie negative Verstärkerstrukturen, die u.a. erwartete Belohnungs- wie Bestrafungswerte mit tatsächlichen vergleichen und aus der Differenz eine Bewertung berechnen. Wie potent diese beiden Systeme sind, zeigen die bekannten Experimente mit Säugetieren, denen in diese beiden Systeme Elektroden implantiert wurden, über die sie selbst diese Systeme stimulieren können.

Stimulationen des Belohnungssystems ziehen Säugetiere allen anderen ansonsten positiven Aktivitäten vor; sie sind sogar bereit, dafür zu verhungern (siehe hierzu auch Olds 1961 u. Gray 1971, 1982).

Als Bewertungsprozesse haben emotionale Prozesse durchaus Ähnlichkeit mit diagnostischen Inferenz- bzw. Problemlöseprozessen. Das heißt natürlich, daß emotionale Prozesse gar nicht so verschieden sind von Denkprozessen, so wie das viele glaubten. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Mit emotionalen Prozessen hat die Evolution versucht, Denkprozesse zu erfinden, noch bevor sie die Mittel erfunden hatte, komplex strukturierte Objekte als Denkinhalte repräsentieren und verarbeiten zu können. Emotionen sind demnach eine Art primitiver Form von Denkprozessen, neben vielen anderen Arten primitiver Denkprozesse, die konvergent in der Evolution entwickelt wurden.

Die funktionale Verwandtschaft zwischen emotionalen Prozessen und diagnostischen Inferenz- und Problemlöseprozessen ist zwar schon lange implizit wie explizit thematisiert worden (siehe hierzu Colby 1981, Bower + Cohen 1982, Minsky 1986), trotzdem ist das heuristische Potential dieser Verwandtschaft noch lange nicht ausgeschöpft. Gerade die Modellierungen von Inferenzprozessen, die mit unsicherem, unvollständigem und vagem Wissen arbeiten, zeigen, daß für Inferenzprozesse auf der Basis solchen Wissens komplexere Verfahren notwendig sind, als sie mit den relativ einfachen Produktionsregelsystemen realisierbar sind, die für die implementierten emotionalen Bewertungsprozesse verwendet wurden. Interessanterweise gilt das sowohl für symbolische wie subsymbolische, massiv-parallele Modellierungen von solchen Inferenzprozessen (siehe hierzu die KI-Literatur über Inferenzprozesse, ein guter Überblick ist z.B. Kemke 1991). Gerade die konnektionistischen Implementationen symbolischer Modelle sowie explizite Modellierungen biologischer neuronaler Strukturen und Prozesse zeigen, daß mentale Prozesse prinzipiell bis zur neuronalen Implementationsebene explizit modelliert werden können. Bis zur Modellierung emotionaler Prozesse auf der neuronalen Implementationsebene ist allerdings noch einiges an Arbeit zu leisten.

Die zweite Funktion von emotionalen Prozessen ist ihre Steuerfunktion, womit gemeint ist, daß sie auf der Ebene des Limbischen Systems drei Arten von Reaktionen auslösen können:

Zentrale Verhaltensprogramme, incl. genetischer Lernprogramme

Autonome Reaktionen

Ausdrucksreaktionen.

Die Steuerung der zentralen Verhaltensprogramme (für Nahrungserwerb, Kampf/Flucht, Fortpflanzung, soziales Zusammenleben, Exploration etc.) einschließlich der genetischen Lernprogramme ist der zentrale Aspekt der Steuerfunktion emotionaler Prozesse. Autonome Reaktionen übernehmen die zugeordneten Reaktionen nach “innen”, während Ausdrucksreaktionen zusammen mit Signalhandlungen die zugeordneten Reaktionen nach außen übernehmen.

Emotionale Ausdrucksreaktionen, realisiert über Mimik, Gestik und Vokalisation, entstanden mit den emotionalen Prozessen als Neuerfindung der Säugetierevolution. Ihre Funktion ist die Äußerung bzw. die Kommunikation von Emotionen, und damit haben sie sowohl eine Funktion in der Regulation des Sozialverhaltens wie in der Regulation anderer Verhaltensweisen, z.B. Aggressionsverhalten gegenüber anderen Raubtieren. Ausdrucksreaktionen, die Darwin (1872) zu Recht “Sprache der Emotionen” nannte, realisieren die äußere Steuer- und Kontrollfunktion emotionaler Prozesse und damit eine der Hauptfunktionen emotionaler Prozesse: die Regulation des Sozialverhaltens (zusammen mit den phylogenetisch älteren Formen der Regulation des Sozialverhaltens: über Verhaltensprogramme, Reflexe und molekulare Formen der Regulation des Sozialverhaltens).

Die dritte Funktion emotionaler Prozesse, ihre Kontrollfunktion, ergibt sich aus der Interaktion mehrerer Prozesse:

Emotionale Bewertungsprozesse, die auf eine veränderte Umweltsituation nach der Auslösung der drei Arten von Reaktionen erfolgen und diese neu bewerten.

Emotionale Prozesse sind selbst Input in neue emotionale Bewertungsprozesse, bzw. sie beeinflussen sich wechselseitig.

Die Auslösung der drei Arten von Reaktionsarten führt in externen wie internen Feedback-Schleifen zu neuen emotionalen Bewertungsprozessen.

Besondere Bedeutung kommt in den externen Feedback-Schleifen den Ausdrucksreaktionen anderer Tiere zu.

Von Bedeutung ist, daß wesentliche Anteile der Steuer- und Kontrollfunktion von Emotionen über molekulare IV-Prozesse realisiert werden, die Emotionen mit den phylogenetisch älteren Formen der IV koppeln und partiell integrieren, bis zu IV-Prozessen im Genom. Anatomisch die wichtigste Schaltstelle dieser Kopplung über molekulare IV ist die Hypophyse. Phylogenetisch entwickelte sich die über die Hypophyse vermittelte molekulare Kommunikation im Organismus aus bei den frühen Wirbeltieren vorhandenen molekularen Kommunikationsprozessen zwischen Organismen, die ihrerseits sich wieder aus molekularen Kommunikationsprozessen im Organismus entwickelten. (So ist halt die Evolution, sie macht aus einer Flosse ein Bein und aus dem Bein wieder eine Flosse.)

In der Evolution sind wir jetzt bei den frühen Säugern angelangt, genauer bei den Insektenfressern, die zur Stammgruppe aller plazentalen Säuger wurden. Zur Verhaltensregulation benutzten sie alle bis dahin entwickelten Formen der IV, von Formen molekularer IV bis zu emotionalen Prozessen. Dabei wurden phylogenetisch ältere Formen der IV immer nur partiell in neue Formen integriert, in dem Sinn, daß sie von diesen gesteuert und kontrolliert werden, beispielsweise die Steuerung und Kontrolle der zentralen Verhaltensprogramme durch emotionale Prozesse. Neben dieser partiellen Integration behielten die alten Formen der IV einen Teil ihres eigenständigen Funktionierens, wie z.B. die zentralen Verhaltensprogramme.

Die partielle Integration verlief aber auch in umgekehrter Richtung, als partielle Steuerung und Kontrolle der neuen Formen der IV durch die alten, z.B. durch die genetische Programmierung der emotionalen Bewertungskriterien oder durch “laxe” Steuerung und Kontrolle der zentralen Verhaltensprogramme durch molekulare IV des Genoms. Ein extremes Beispiel für die Regulation von Verhaltensprogrammen durch das Genom ist der Seehase, bei dem die Eiablage direkt vom Genom gesteuert und kontrolliert wird.

Aus den Insektenfressern entwickelten sich neben vielen anderen Säugetierordnungen die Primaten, speziell die großhirnigen, kulturbildenden und werkzeugbenutzenden Affen, zu denen auch der Mensch gehört. In der Primatenevolution wurden in einem Zeitraum von etwa 70 Millionen Jahren gleich mehrere neue Formen von IV entwickelt. Die erste neue Form von IV waren komplexe kognitive Prozesse auf der Basis analoger Repräsentationen. Die Entwicklung dieser neuen Formen von IV bedeutete gleichzeitig die Entwicklung eines neuen Integrationszentrums, anatomisch der Neocortex des Vorderhirns. Ökologischer Kontext der Primatenevolution war der Übergang zum Baumleben. In diesem Kontext entstanden als Anpassung an das Baumleben viele neue Strukturen und Systeme, wie die Greifhand, Augen mit überlappenden Sehfeldern sowie neue sensorische, motorische und zentral integrierende Systeme.

Das neue visuelle System der Primaten war eine der wichtigsten Neuentwicklungen. Es entwickelte sich zum komplexesten funktionalen System des Neocortex, bestehend aus einer Vielzahl von Prozessen, von der sog. frühen visuellen Wahrnehmung über Objekterkennung, Szenenrekonstruktion bis zu sog. höheren Bildverstehensprozessen. Das neue visuelle System entwickelte sich zusammen mit zwei anderen großen sensorischen Systemen: einem neuen auditiven System und einem neuen somatosensorischen System. In Ko-Evolution mit den neuen sensorischen Systemen entstanden neue Systeme zur Planung und Ausführung verschiedener Arten von Handlungen (physische Handlungen, kommunikative Handlungen, soziale Handlungen), die die in den neuen sensorischen Systemen entwickelten strukturreichen analogen Repräsentationen von Objekten als Basis benutzten, vor allem die analogen Repräsentationen des visuellen Systems – auch im menschlichen Denken spielen visuelle Vorstellungen immer noch eine zentrale Rolle. Die Möglichkeit, Handlungen unterschiedlichster Art in einem strukturreichen Raum-Zeit-Modell vorauszuplanen und ihren Ablauf wie ihre Folgewirkungen simulieren zu können, bedeutete gegenüber den emotionalen Prozessen eine weitere entscheidende “Entkopplung” zwischen sensorischem Input und motorischer Aktion. Entscheidend für die Entkopplung war auch die Erfindung neuer Arten des Lernens, wie Nachahmungslernen und soziales Lernen.

Nachahmungslernen und soziales Lernen, das Nachahmungslernen einschließt, spielten im Verlauf der Primatenevolution eine immer größere Rolle, lebten die Primaten doch in immer komplexeren sozialen Strukturen und entwickelten immer komplexere Kommunikationssysteme. Soziales Lernen ermöglichte es, individuell erworbenes Wissen an andere weiterzugeben und umgekehrt das kollektive Wissen einer Gruppe an Individuen einer neuen Generation weiterzugeben. Hierdurch wurde Traditionsbildung möglich bzw. kulturelle Evolution, die den Stellenwert des sozialen Lernens weiter erhöhte. Kulturelle Evolution ist demnach eine biologische Erfindung wie vieles andere und ein Teil der biologischen Evolution, nichts außerhalb von ihr. Kulturelle Evolution ist auch keine Erfindung des Menschen sondern kennzeichnet die Lebensweise aller höherer Affenarten, vom Makaken bis zum Menschen. Mit der Entstehung der neuen Form der IV auf der Basis analoger Repräsentationen wiederholte sich die partielle Integration der schon vorhandenen Formen von IV mit der neu entwickelten Form. Ein Teil der Steuer- und Kontrollfunktion des Gesamtverhaltens ging an die neuen Prozesse über als Steuer- und Kontrollfunktion gegenüber den phylogenetisch älteren Formen von IV, einschließlich der emotionalen IV. Umgekehrt übernahmen die alten Prozesse eine partielle Steuerung und Kontrolle der neuen mentalen Prozesse im Neocortex, wobei den emotionalen Prozessen eine Vermittlerfunktion gegenüber den noch älteren Formen der IV zufiel (siehe hierzu auch Mc Lean, 1963, 1977, der in ähnlicher Weise die Mittlerfunktion emotionaler Prozesse beschrieb).

Da die neuen Prozesse im Verlauf der Primatenevolution schnell an Komplexität zunahmen, mußte zur Realisierung dieser Mittlerfunktion einiger Aufwand getrieben werden, angefangen bei der emotionalen Bewertung der Ergebnisse der neuen sensorischen Systeme. Beispielsweise haben viele der über 30 Felder des Neocortex, die das neue visuelle System ausmachen, bidirektionale Verbindungen zur Amygdala, über die sensorische Inhalte – Perzepte – emotional bewertet werden (in Interaktion mit anderen Teilen des Limbischen Systems).

Analog ist es bei den anderen neuen sensorischen Systemen; auch bei ihnen sind viele Felder, die Teilfunktionen realisieren, mit der Amygdala und anderen Strukturen des Limbischen Systems verknüpft. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, daß über diese Verbindungen die Amygdala und die anderen Teile des Limbischen Systems an der neocorticalen Wahrnehmung und Einschätzung der Welt teilhaben.

Ein Beispiel ist die visuelle Wahrnehmung eines Affen durch einen anderen, wo die visuellen Felder, die Gesichter, Mimik und Gestik analysieren, mit der Amygdala zusammenarbeiten, die u.a. eine emotionale Bewertung des wahrgenommenen Ausdrucksverhaltens vornimmt – mit entsprechenden Verhaltenskonsequenzen.

Entscheidend ist, daß die emotionalen Bewertungsprozesse zeitlich parallel und in Interaktion mit den neuen Wahrnehmungsprozessen des Neocortex stattfinden. Interaktion bedeutet hierbei, daß die emotionalen Bewertungsprozesse in unterschiedlicher Weise auf die Wahrnehmungsprozesse zurückwirken, z.B. durch die Steuerung der visuellen Aufmerksamkeit, durch Beeinflussung von Bottom-up-Prozessen, durch das Wiedererinnern emotionaler Bewertungen, die Steuerung semantischer Interpretationen u.a. Prozesse.

Diese komplexe Koppelung zwischen emotionalen Prozessen und Wahrnehmungsprozessen fand ihre Fortsetzung in einer ebenso komplexen Kopplung zwischen den neu entwickelten Denkprozessen auf der Basis analoger Repräsentationen und den emotionalen Prozessen. Zeitlich parallel zum Ablauf der Vorstellungsprozesse bewerten emotionale Prozesse die Vorstellungsinhalte und haben einen partiell steuernden und kontrollierenden Einfluß auf den Ablauf der Denkprozesse.

Ein Beispiel für den steuernden Einfluß ist die Unterbrechung von Denkprozessen und der Übergang zu schnellen und allgemeinen Reaktionen wie Aggressionsverhalten (siehe hierzu Simon 1967, Dörner 1983). Gerade diese Unterbrecherfunktion, zur Zeit ihrer Erfindung in der Evolution der höheren Affenarten eine nützliche evolutionäre Anpassung, führt beim Menschen zu überaus fatalen Auswirkungen auf die Organisation seines Gesamtverhaltens.

Eine weitere neue Form der IV entstand step-by-step aus den mentalen Prozessen auf der Basis analoger Repräsentationen: mentale Prozesse auf der Basis abstrakt-symbolischer Repräsentationen. Dieser Prozeß verlief vor allem über die Entwicklung konzeptueller, aber immer noch analoger Repräsentationen, aus denen dann abstrakt-symbolische konzeptuelle Repräsentationen entstanden. Auf der Basis der konzeptuellen analogen Repräsentationen konnten die höheren Affen Common-sense-Theorien entwickeln, die sie im sozialen Lernen weitergaben, z.B. die Common-sense-Medizin der Schimpansen. Mit der Entwicklung abstrakt-symbolischer konzeptueller Repräsentationen konnten die Entwicklung und Verwendung von Common-sense-Theorien weiter optimiert werden. Zu den “Verwendungen” gehörten neue Formen von Problemlöseprozessen, Planungsprozesse, Verstehensprozesse, Lernprozesse u.a., die aber in der Regel in enger Interaktion bzw. in variablen “Mischungen” mit den phylogenetisch älteren Prozessen auf der Basis analoger Repräsentationen abliefen – so wie es auch beim heutigen Menschen noch der Fall ist.Zu den möglichen “Mischungsverhältnissen” gehören Prozesse, bei denen die abstrakt-symbolischen Prozesse dominieren, z.B. in der Kombination Sprachverstehen/Sprachgenerieren, Problemlösen und Planen/Ausführen physischer Handlungen. Das heißt aber nichts anderes, als daß die abstrakt-symbolischen Prozesse potentiell die Kontrolle über das Gesamtverhalten übernehmen können. In bezug auf die subsymbolischen Prozesse wiederholte sich damit wieder die wechselseitige partielle Integration.

Common-sense-Theorien, die über soziales Lernen tradiert werden, waren, wie schon angesprochen, eine der wichtigsten evolutionären Erfindungen in der Evolution höherer Affenarten. Dies gilt besonders für eine CS-Theorie: die Common-sense-Psychologie.Die CS-Psychologie ermöglichte eine weitere Form von IV: metakognitive Prozesse, wie Introspektion und Formen reflexiver Denkprozesse sowie, verbunden hiermit, introspektive Berichte. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Vorteil, wenn einzelne Individuen in sozialen Gruppen mentale Phänomene explizit repräsentieren konnten, wenn sie – lax formuliert – eine Vorstellung von dem hatten, was im Kopf eines Artgenossen vorgeht. Dies ermöglichte vieles: für die einzelnen Individuen wesentlich verbesserte Möglichkeiten des sozialen Handelns inkl. des sozialen Lernens, weiter neue Formen der Kommunikation, da z.B. ein Individuum explizit repräsentieren konnte, daß aufgrund seiner Mitteilung ein anderes Individuum etwas weiß, im Unterschied zum vorherigen Nichtwissen. Die Selbstanwendung der CS-Psychologie ermöglichte weiteres: die explizite Metarepräsentation der eigenen mentalen Phänomene; das Tier hatte – lax formuliert – eine Vorstellung von dem, was in seinem eigenen Kopf vor sich ging, etwas technischer formuliert: ein mentales Selbstmodell.Durch die Selbstanwendung der CS-Theorie, speziell einer Teiltheorie von ihr, der CS-Emotionstheorie, entstand etwas weiteres: Gefühle als bewußt erlebte Emotionen. Die Erfindung von Gefühlen ermöglichte wiederum die partielle Kontrolle von Gefühlen über metakognitive Prozesse, was im sozialen Verband durchaus von Vorteil war.Diese Entwicklung vollzog sich in der Katarrhinenrevolution bis zur Entwicklung der Hominiden (Schimpanse, Mensch und Gorilla). Die Erfindung “natürlicher Psychologen” ermöglichte noch ein weiteres: explizite Kommunikation und explizites Nachdenken über Gefühle und damit die Voraussetzungen für eine Arbeit wie diese. Gefühle wären ohne die Erfindung “natürlicher Psychologen” nicht möglich gewesen, allerdings gilt das für wirklich intelligentes Handeln allgemein: Wirklich intelligente Systeme, egal, ob “biologische” oder KI-Systeme, müssen natürliche Psychologen sein.

Aktualgenese von Emotionen

Ausgehend von den Überlegungen zur Phylogenese emotionaler Prozesse werde ich im Folgenden ein Rahmenmodell der Aktualgenese emotionaler Prozesse entwerfen, das der Phylogenese dieser Prozesse gerecht wird und in dem auch bewußt erlebte Emotionen ihren Platz haben. Dieses Modell ist in Abb. 3 skizziert.

Weiter ist dieses Modell nicht nur ein Rahmenmodell emotionaler Prozesse, sondern vor allem ein neues Rahmenmodell des gesamten IV-Systems des Menschen und verwandter Tierarten (zumindest der Hominiden). Es ist meines Wissen der erste Entwurf der gesamten Architektur von IV-Prozessen – vom Genom bis zum Bewußtsein. Insofern ist dieses Modell der Rahmen für das in meiner Dissertation entwickelte Modell zentraler mentaler Prozesse – in diesem Modell sind das metakognitive, symbolische und subsymbolische IV-Prozesse.

Informationsverarbeitende Prozesse werden in diesem Modell von mindestens sieben Formen von IV realisiert, die Informationen aus der Außen- und der Innenwelt des Organismus parallel verarbeiten. Jede dieser Formen der IV kann – lax – als ein eigenes “Gehirn” aufgefaßt werden mit eigenen sensorischen, zentralen und effektorischen Verarbeitungsprozessen. Jede dieser Formen der IV bzw. jedes dieser “Gehirne” arbeitet – mit teilweiser Ausnahme der metakognitiven Prozesse – mit jeweils unterschiedlichen Methoden der IV, zwischen denen es allerdings Verwandtschaften und Übergänge gibt. Jede dieser Formen der IV bzw. jedes dieser Gehirne kann potentiell die Steuerung und Kontrolle über den Organismus übernehmen, d.h. – lax formuliert -: bestimmen, was der Organismus als nächstes tun soll. Die Abfolge dieser Formen der IV – von der molekularen IV bis zur Metakognition – spiegelt sowohl ihre Phylogenese wie ihre Ontogenese – wenn auch in modifizierter Form. Faktisch kommt einigen dieser Formen der IV eine Sonderstellung zu, z.B. der wichtigsten Subform molekularer IV, der IV im Genom. Dieser molekulare oder Nano-Computer hat bei höheren Tieren nur in der Embryonalentwicklung eine Zeitlang die Gesamtkontrolle über den Organismus, behält aber ansonsten eine Art von “Hintergrundkontrolle” bis zum Tod des Organismus.

Alle diese Formen der IV sind nur partiell wechselseitig integriert, sie behalten eine partielle Autonomie. Weiter erstreckt sich die wechselseitige partielle Integration über die phylogenetischen Nachbarn hinweg, z.B. durch die Kopplung zwischen zentralen Verhaltensprogrammen und endokrinem System, einer Subform molekularer IV, oder durch die Kopplung zwischen reflexiven Denkprozessen, die zu den metakognitiven Prozessen gehören, und den emotionalen Prozessen.

Emotionale IV ist in diesem System aus IV-Systemen eine von vielen Formen der IV. Emotionen werden zeitlich zuerst generiert durch Verbindungen zwischen älteren sensorischen Systemen und den emotionsgenerierenden Strukturen des Limbischen Systems.

Ein Beispiel für einen solchen schnellen emotionsgenerierenden Prozeß ist die Wahrnehmung eines schlangenähnlichen Objekts in der Sehfeldperipherie, die darauffolgende Bewertung als “Angst”, was wiederum spontan Fluchtverhalten generiert. Diese Prozeßkette verläuft nicht über den Cortex, sondern über eine direkte Verbindung von der Sehbahn über den Thalamus zum Mandelkern, wo wahrscheinlich der Bewertungsprozeß stattfindet – die Generierung der Emotion “Angst” -, der wiederum das Fluchtverhalten auslöst, via Hypothalamus, Mittelhirn und Medulla oblongata (siehe hierzu u.a. Le Doux 1989, Denny 1992).

Ein anderes Beispiel schneller emotionsgenerierender Prozesse sind emotionale Bewertungen molekularer Informationsträger, die über die Geruchswahrnehmung perzipiert werden.

Emotionen dieser Art sind die in den Emotionstheorien oft auch als “präkognitiv” genannten Emotionen, siehe Zajonc, 1980, wobei “präkognitiv” zu lesen ist als: nicht über den Neocortex generiert.

Präkognitive Emotionen werden aber auch über andere Verbindungen generiert:

über die Aktivierung zentraler Verhaltensprogramme über AAMs, wobei die Verhaltensprogramme ihrerseits Emotionen triggern

über die Aktivierung zentraler Verhaltensprogramme durch das Genom bzw. über eine Veränderung der Schwellenwerte zur Auslösung von Verhaltensprogrammen. Solche Prozesse können m.E. über mehrere Wege Emotionen generieren und sind ein Teil der “Hintergrundkontrolle” des Genoms.

Emotionsgenerierende Prozesse über phylogenetisch ältere Formen der IV und über das Limbische System sind teilweise in den sog. zentralistischen und neurobiologisch orientierten Emotionstheorien thematisiert worden.

In der Abb. 1 stehen die Wege 1a – 1c für diese phylogenetisch älteren Wege der Emotionsgenerierung, wobei den sehr schnell generierten Emotionen vielleicht die größte funktionale Bedeutung zukommt.

Zeitlich etwas später als diese Form präkognitiver Emotionen werden Emotionen über zahlreiche Verbindungen zwischen den neuen sensorischen Systemen des Neocortex und den emotionsgenerierenden Strukturen des Limbischen Systems generiert, 2a + 2b bezeichnen diese Wege. Da diese Emotionen zeitlich parallel zu den neuen Wahrnehmungsprozessen generiert werden, bezeichne ich sie auch als “parallelverlaufende Emotionen”.

Ein Beispiel eines solchen emotionsgenerierenden Prozesses ist die visuelle Wahrnehmung einer Alltagsszene, z.B. eine Szene in einem Restaurant, wo im neuen visuellen System auf verschiedenen Verarbeitungsebenen Emotionen getriggert werden, angefangen von der Erkennung von visuellen Merkmalen wie Farbe, Textur und 3D-Form über erkannte Objekte, Gesichter bis zur Erkennung von Handlungen und sozialen Situationen. Besonders emotionsindizierend ist die Erkennung von Gesichtern, an der auch das alte visuelle System beteiligt ist.

Ein anderes Beispiel parallelverlaufender Emotionen sind Emotionen, die im neuen somatosensorischen System auf verschiedenen Verarbeitungsebenen getriggert werden und so immer in die eigene somatosensorische Körperwahrnehmung mit eingebunden sind.

Parallelverlaufende Emotionen können weiter auch von allen Arten von Denkprozessen generiert werden, angefangen von rein imaginalen Denkprozessen (z.B. die Imagination furchteinflößender oder erotischer Inhalte) bis zu allen Arten abstrakt-symbolischer Denkprozesse. 3a + 3b bezeichnen diese emotionsgenerierenden Wege.

Parallelverlaufende Emotionen gehen kontinuierlich über in Emotionen, die erst nach dem Ablauf komplexer Denkprozesse generiert werden (4a, b), z.B. nach komplexen Handlungsplanungsprozessen oder nach Denkprozessen, die komplexe Situationen und Kausalanalysen beinhalten. Solche Emotionen werden in den Emotionstheorien oft “postkognitive” Emotionen genannt und sind in den sog. kognitivistischen Emotionstheorien untersucht und thematisiert worden.

Emotionsgenerierende Prozesse können weiter reflexive Denkprozesse im engeren Sinn sein (5), z.B. das Update der Kompetenzeinschränkung nach der Beendigung eines metakognitiv gesteuerten und kontrollierten Problemlöseprozesses oder metakognitive Diagnose- und Korrekturprozesse.

Emotionen können vielerlei Auswirkungen haben, wie:

Steuerung und Kontrolle zentraler Verhaltensprogramme

Ausdruckreaktionen

Autonome Reaktionen

Steuerung und Kontrolle von Wahrnehmungs-, Denk- und Lernprozessen auf der Objektebene

Steuerung und Kontrolle von Handlungen unterschiedlicher Komplexität

Steuerung und Kontrolle von metakognitiven Prozessen

Generierung introspektiver Berichte über bewußt erlebte Emotionen.

Alle diese Auswirkungen emotionaler Prozesse können in einer Vielzahl von Feedback-Schleifen wiederum Emotionen generieren, die ihrerseits wieder komplexe Auswirkungen haben können, wozu nicht nur die oben beschriebenen gehören, sondern auch Rückwirkungen auf bereits vorhandene Emotionen, wie:

Verstärkung vorhandener Emotionen

Stabilisierung vorhandener Emotionen

Abschwächung vorhandener Emotionen

Generierung neuer Emotionen.

Die Wege dieser Feedback-Schleifen können im einfachsten Fall über die Perzeption und erneute emotionale Bewertung von eigenen Reaktionen und Handlungen führen (z.B. bei autonomen Reaktionen, Aus- drucksverhalten, zentralen Verhaltensprogrammen, eigenen Handlungen). Solche Prozesse sind u.a. in den sog. peripheralistischen Emotionstheorien untersucht und thematisiert worden (James 1890, Schachter + Singer 1962, Izard 1977, Leventhal 1980). Komplexere Wege dieser Feedback-Schleifen entstehen durch die partielle Kopplung der Formen der IV, von der molekularen IV bis zu den metakognitiven Prozessen.

So kann ein reflexiver Denkprozeß durchaus über eine Prozeßkette, die die Generierung von Emotionen mit einschließt, auf die Ebene der molekularen IV im Genom zurückwirken, dort eine Aktion auslösen, die über mehrere Schritte, wie Aktivierung zentraler Verhaltensprogramme und autonomer Reaktionen und dadurch bewirkter Emotionsgenerierung, wiederum auf die reflexiven Denkprozesse zurückwirkt.

Alle diese vielen Wege der Emotionsgenese, der Auswirkungen von Emotionen und der Feedback-Schleifen ergeben natürlich eine hochgradig nichtlineare Systemdynamik, die aber der biologischen Realität (inkl. der psychologischen Realität) schon sehr viel näherkommt, als das in allen bisherigen Emotionstheorien der Fall ist.

Die ausgeprägte Nichtlinearität in der Interaktion von emotionalen und anderen IV-Prozessen zeigt sich deutlich schon in einer groben Analyse emotionsinduzierender Prozesse.

Nehmen wir den Fall stark emotionsinduzierender Bilder, wie sie Bilder aus einem KZ, Babybilder oder pornographische Bilder darstellen:

Die visuelle Wahrnehmung dieser Bilder generiert schon bei einem überblicksartigen fovealen Abtasten präkognitive und parallelverlaufende Emotionen verschiedener Art.

Zeitlich verschränkt zum weiteren Sehen der Bilder triggern die ausgelösten Emotionen autonome Reaktionen wie Veränderung der Herzschlagfrequenz, Schweißbildung, Erektion, Veränderung der Durchblutung etc. Über die somatosensorische Wahrnehmung dieser Reaktionen werden wieder präkognitive und parallelverlaufende Emotionen getriggert.

Zeitlich verschränkt zum weiteren Sehen der Bilder werden Ausdrucksreaktionen getriggert, die über das Feedback somatosensorischer Wahrnehmung wiederum Emotionen triggern.

Zeitlich verschränkt zu diesen Prozessen wirken die generierten Emotionen auf die visuelle Wahrnehmung zurück, u.a. durch Beeinflussung der visuellen Aufmerksamkeit, der höheren Verarbeitungsprozesse etc.

Die generierten Emotionen triggern über die Beeinflussung der visuellen Wahrnehmung hinaus Denkprozesse unterschiedlicher Art, z.B. visuelle Vorstellungsprozesse, die ihrerseits wiederum eine emotionsinduzierende Wirkung haben.

Je nachdem, in welchem Kontext die Bilder gesehen werden (Ausstellung im Museum, Fernsehen, Kino etc.), können intentionale Handlungen getriggert werden, die u.a. die Aufnahme sozialer Interaktionen beinhalten. Über die mit der sozialen Interaktion verbundene Akteurwahrnehmung und die eigene Selbstwahrnehmung (s. Kiefer 1992b) werden wiederum Emotionen getriggert.

Gefühle

Ein Problem bleibt noch: das Phänomen der bewußt erlebten Emotionen, also das, was normale Menschen gewöhnlich mit “Gefühlen” meinen. Die Lösung dieses Problems impliziert die Lösung des Bewußtseins- und Introspektionsproblems – und vor nichts haben Philosophen und Psychologen seit Behaviorismus und analytischer Philosophie einen größeren Horror gehabt – nur: Will man erklären und modellieren, was Gefühle sind, und vor allem, durch welche Prozesse sie entstehen, wie es zu ihnen kommt, dann führt nichts an der Lösung dieses Problems vorbei.

Bewußtseinsprozesse bestehen aus mehreren Gruppen von mentalen Prozessen, die in ihrer Gesamtheit und in ihrer Interaktion untereinander und mit anderen mentalen Prozessen das ausmachen, was wir als “Bewußtsein” erleben und beschreiben.4 Jede dieser Gruppen von Prozessen besteht aus IV-Prozessen, die bestimmte Funktionen realisieren, so wie die IV-Prozesse, aus denen der Sehprozeß besteht, wie z.B. die Konturerkennung, die Objekterkennung oder die Erkennung von Intentionen. Die wichtigste Gruppe der Bewußtseinsprozesse, die den “funktionalen Kern” der Bewußtseinsprozesse ausmachen, sind Prozesse, die on-line Metarepräsentationen berechnen und die sich ihrerseits wieder in zwei Teilgruppen gliedern lassen5:

Introspektive Prozesse

Weltenkonstitutionsprozesse.

Introspektion ist ein innerer Selbstwahrnehmungsprozeß der eigenen mentalen Prozesse und deren Inhalte sowie von mentalen Zuständen. Gegenstandsbereich der Introspektion sind ausschließlich Vorgänge, Objekte und Zustände der eigenen mentalen Welt; das unterscheidet sie von anderen Wahrnehmungsprozessen. Introspektion läßt sich modellieren als on-line und simultan-funktionierender Erkennungsprozeß, der mentale Ereignisse, deren Inhalte und mentale Zustände zeitlich simultan zu ihrem Auftreten erkennen kann (wobei Erkennen heißt, eine unbekannte Entität als Element einer bekannten Klasse von Entitäten zu erkennen) und als Ergebnis dieses Erkennungsprozesses Metarepräsentationen in Konzepten der Common-sense-Psychologie berechnet. Neben abstrakt-symbolischen Konzepten können die Metarepräsentationen auch Vorstellungen und kompilierte Formen von Wissensrepräsentationen sein. Beispiele zu erkennender mentaler Ereignisse sind visuelle Vorstellungsprozesse, Planungsprozesse komplexer Handlungen, abstrakt-symbolische Problemlöseprozesse oder Erinnerungsprozesse. Diese Ereignisse werden auf konzeptuelle Einheiten der Common-sense-Psychologie abgebildet, auf konzeptuelle Einheiten wie “visuelles Vorstellen”, “Planen”, “Problemlösen” und “Erinnern” sowie auf Subkonzepte dieser Konzepte. Entsprechend werden die Inhalte dieser Prozesse auf konzeptuelle Einheiten abgebildet, wie “visuelle Vorstellung”, “Plan”, “Gedanke” und “Erinnerung” sowie auf Subkonzepte dieser Konzepte.

Wesentlich ist das zeitlich simultane Funktionieren des introspektiven Erkennungsprozesses, was heißt, daß ein mentales Ereignis wie “visuelles Vorstellen” oder “Erinnern” schon erkannt wird, bevor es vollständig aufgetreten ist. Diese zeitlich simultane Erkennung, technisch: das Instantiieren eines generischen mentalen Ereignismodells, läßt sich u.a. mittels sog. inkrementeller Erkennungsverfahren realisieren. Die Ergebnisse des Introspektionsprozesses – strukturelle Beschreibungen eigener mentaler Entitäten in Konzepten der Common-sense-Psychologie – sind ihrerseits wieder die “Datenbasis” für andere Prozesse, wie z.B. die Generierung introspektiver Berichte.

Von Bedeutung ist, daß nicht alle mentalen Entitäten der Introspektion zugänglich sind; insgesamt ist nur ein kleiner Teil der mentalen Entitäten der Introspektion zugänglich.

Zu den mentalen Entitäten, die der Introspektion partiell zugänglich sind, gehören auch die emotionalen Prozesse. Wissensbasis für die introspektive Erkennung der eigenen mentalen Prozesse ist die entsprechende Teiltheorie der Common-sense-Psychologie bzw. des mentalen Selbstmodells: die Common-sense-Emotionstheorie. Die Common-sense-Emotionstheorie ist die konzeptuelle Matrix, auf die der Introspektionsprozeß Emotionen abbildet; sie wird, wie alle Common-sense-Theorien, nur teilweise über die natürliche Sprache erworben. Inhaltlich konserviert die Common-sense-Emotionstheorie (im folgenden CS-Emotionstheorie genannt) die verallgemeinerten Erfahrungen unzähliger unserer Vorfahren, bis zurück in jene Zeit, wo einige Katarrhinen die CS-Theorien erfanden. Die CS-Emotionstheorie enthält umfangreiches Wissen über emotionale Prozesse; sie ist gliederbar in viele Teiltheorien: in Theorien differentieller Emotionen wie Wut, Ärger, Freude, Lust, Unlust, Interesse etc., weiter in Theorien, die generelle Annahmen über Emotionen enthalten sowie Annahmen über die Interaktion von Emotionen mit anderen mentalen Prozessen. Hinzu kommen weitere Theorien, die u.a. Annahmen über die Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit von Emotionen enthalten. Die Theorien differentieller Emotionen enthalten komplexe Annahmen über Faktoren, die Emotionen auslösen können, Annahmen über die Charakteristika und die Funktion einzelner Emotionen, Annahmen über die Auswirkungen von Emotionen, über individuelle Besonderheiten, über die Abhängigkeit von Persönlichkeitseigenschaften etc.

Komplex wie die CS-Emotionstheorie sind auch die dieser zugeordneten sprachlichen Mittel. Sie bestehen aus mehreren hundert Wörtern, die direkt Emotionen bezeichnen, sowie vielen anderen sprachlichen Mitteln zur Beschreibung von Emotionen, wie Metaphern, z.B. “der Kragen geplatzt”. Inhaltsanalytische Untersuchungen der CS-Emotionstheorie und der sprachlichen Mittel zur Beschreibung von Emotionen wurden von vielen Autoren erarbeitet; genannt seien hier Peters 1969, 1970, Laucken 1973, Mees, 1985, Wallbot + Scherer, 1985, Langfeldt + Langfeldt-Nagel, 1990.

Die introspektive Erkennung einzelner (differentieller) Emotionen besteht in deren Abbildung auf die konzeptuelle Matrix der entsprechenden CS-Teiltheorie, technisch in der Instantiierung der entsprechenden konzeptuellen Strukturen. Dieser Prozeß der inkrementellen Generierung von Metarepräsentationen in Konzepten der CS-Theorie ist nun der eigentlich bewußtseinsgenerierende Prozeß; es ist der Prozeß, der aus unbewußten Emotionen “Gefühle” macht bzw. diese berechnet.

Allerdings ist die Introspektion nur der “Kernprozeß” des Bewußtseins. Zur vollständigen Bewußtseinsgenerierung müssen noch weitere Prozesse hinzukommen, die Metarepräsentationen berechnen: Prozesse, die “Welten” generieren bzw. repräsentieren.

Mit “Welten” sind hierbei ontologische Bereiche mit definierbarer Semantik und Pragmatik gemeint, z.B. die “physische Welt”, die “eigene mentale Innenwelt”, fremde “mentale Welten” etc. Während Introspektionsprozesse so etwas wie “lokale” Metarepräsentationen berechnen, berechnen diese übergeordneten Prozesse so etwas wie “globale” Metarepräsentationen, und zwar nicht nur eine, sondern eine multiple Hierarchie solcher Weltenrepräsentationen. Im Unterschied zu bisherigen Arbeiten in der KI, die die Semantik von Welten nur extensional und prozedural berechnen und repräsentieren, sind diese Prozesse solche, die eine intensionale Semantik von Welten berechnen und diese in konzeptuellen Einheiten repräsentieren. Dies ist Voraussetzung zur Reflexion und Kommunikation über “Welten”, und zweifelsohne sind Menschen hierzu in der Lage, z.B. in der Kommunikation über ihre Realitätstheorie.

Weltenrepräsentationen ermöglichen es, Entitäten “in” diesen Welten zu plazieren; z.B. kann ein visuell wahrgenommenes Objekt als Teil der physischen Außenwelt wie auch als Teil der mentalen Innenwelt interpretiert werden.

Auch bei Emotionen gibt es diese Möglichkeit, sie als Entitäten unterschiedlicher Welten zu interpretieren: einerseits als mentale Entitäten, die Teil der mentalen Welt sind, andererseits als Entitäten, die Teil der physischen Welt des eigenen Körpers sind. Die CS-Emotionstheorie läßt sogar beide Interpretationen zur selben Zeit zu. Hier darf man nicht vergessen, daß CS-Theorien in jeder Hinsicht unvollständig, vage und inkonsistent sind – und trotzdem funktionieren. Über den Prozeß der Weltenrepräsentationen können Emotionen gleichzeitig “in” mehreren Welten plaziert werden, was sich dann in introspektiven Äußerungen darstellen kann, z.B.: “Ich fühle eine unheimliche Wut im Bauch.” Auf den höheren Ebenen der Hierarchie von Welten wird schließlich die Relation des “Enthaltenseins” mehrdeutig und unbestimmt – die obersten Welten enthalten sich im gewissen Sinn wechselseitig, und eine dieser Welten ist das “Bewußtsein”. Sie kann, je nach Interpretation, die eigene mentale Innenwelt wie alle anderen Welten beinhalten und selbst doch wieder Teil der physischen Welt sein.

Die Berechnung globaler Metarepräsentationen in Form einer multiplen Hierarchie von Welten mit intensionaler Semantik integriert ganz unterschiedliche Formen von IV, für die lokale Metarepräsentationen berechnet wurden, in gemeinsame Welten; z.B. werden Wahrnehmungen, Vorstellungen, Pläne unterschiedlicher Art, abstrakt-symbolische Denkprozesse, Gefühle etc. zu einer “eigenen mentalen Welt” zusammengefaßt. Hier haben wir, denke ich, eine naturalistische Erklärung für etwas, was bei Philosophen früher immer für viel Verwirrung sorgte: die Frage nach der “einheitsstiftenden” Funktion des Bewußtseins bzw. die Frage nach dem “Sensorium commune”.

Technisch lassen sich Weltenrepräsentationen als inkrementelle Berechnungen von konzeptuellen Metarepräsentationen für Partitionen modellieren, in Kombination und Weiterführung der Ansätze von Hendrix 1979 sowie von Rist et al. 1987, Herzog + Rist 1988.

Ein wichtiger Aspekt der Generierung von lokalen wie globalen Metarepräsentationen im Introspektions- und in den Weltenkonstituierungsprozessen ist deren Theorienrelativität. Damit ist gemeint, daß die Berechnung dieser Metarepräsentationen immer relativ ist zu den Inhalten der CS-Theorien. Diese haben eine intra- wie interindividuelle Varianz, variieren mit Schichtzugehörigkeit, Kulturzugehörigkeit etc. Über die Generierung von Metarepräsentationen geht diese Varianz in die metakognitiven Prozesse ein. “Gefühle” als metakognitive Prozesse sind somit einerseits kausal determiniert durch die emotionalen Prozesse als Objektprozesse und andererseits durch die Inhalte der CS-Emotionstheorie, die über die Berechnung von Metarepräsentationen bei der Berechnung von Gefühlen selbst kausal wirksam ist.

Mit dem Introspektionsprozeß und den Weltenkonstituierungsprozessen ist im komplexen mentalen System einiger höherer Affenarten wie dem Menschen eine qualitativ neue Ebene entstanden: die Ebene explizit bewußter bzw. introspektiv-subjektiver Erfahrungen, und in bezug auf Emotionen – die der Gefühle.

Wie andere Objektprozesse können auf dieser metakognitiven Ebene bewußt erlebte Emotionen zum Gegenstand von metakognitiven Steuer- und Kontrollprozessen werden, auch wenn nur eine begrenzte Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit möglich ist.

Im Anschluß an den Introspektionsprozeß können weiter introspektive Berichte generiert werden, im Fall der introspektiven Erkennung eigener Emotionen introspektive Berichte über eigene Emotionen. In Kiefer 1988 habe ich mehrere IV-Modelle der Generierung introspektiver Berichte entwickelt, die im Minimalmodell folgende Teilprozesse beinhalten:

introspektive Erkennung

Auswahl/Sequentialisierung zu verbalisierender mentaler Ereignisse/Inhalte/Zustände

Auswahl mentaler Verben oder anderer Lexeme

Auswahl thematischer Rollen

Prozesse der Oberflächengenerierung.

Die von mir entwickelten Modelle der Generierung introspektiver Berichte zeigen, daß diese Prozesse modellierbar sind. Angewandt auf Emotionen als Gegenstandsbereich, sind mit ihnen introspektive Berichte über eigene Gefühle modellierbar. Damit können introspektive Berichte über eigene Gefühle nicht nur als Datenklasse zur empirischen Überprüfung verwendet werden, sondern ihr Zustandekommen selbst erklärt und modelliert werden.

Das ist insofern von außerordentlicher Bedeutung, als introspektive Berichte über eigene Gefühle ja nun mal die bewußtseinsnächste Datenklasse sind, die wir haben, und die Fähigkeit zu ihrer Generierung gemeinhin als hinreichendes Kriterium für das Vorhandensein von bewußten, subjektiven Erlebnissen angesehen wird.

In Philosophie und Psychologie ist seit Anfang dieses Jahrhunderts über Introspektion und introspektive Berichte als Methode gestritten worden. Meist ist da schlicht die falsche Diskussion geführt worden, denn Introspektion und introspektive Berichte sind als mentale Prozesse viel interessanter, u.a. weil der Introspektionsprozeß der Schlüssel zum Verständnis des Bewußtseins ist.

Anwendungen

Emotionen, Gefühle als bewußt erlebte Emotionen, sowie emotionale Reaktionen und introspektive Berichte über Gefühle, lassen sich, so hoffe ich gezeigt zu haben, mit dem hier entwickelten Ansatz prinzipiell modellieren.

Die Frage ist nun: Zu welchen Zwecken sollten Gefühle modelliert werden bzw. KI-Systeme mit Gefühlen ausgestattet werden? Einer dieser Zwecke wird auf jeden Fall das Verständnis und die Erklärung der mentalen Systeme sowie der Handlungs- und Verhaltensorganisation der Tiere sein, die über Emotionen verfügen. Andere sinnvolle Anwendungen ergeben sich aus der Weiterentwicklung von KI, virtueller Realität und anderen Technologien wie digitalen Medien und Telekommunikation.

In verschiedenen Arbeiten (siehe u.a. Kiefer, 1990, 1991b, 1992a, 1992b, 1993) habe ich die Vision einer umfassenden Technologie- und Medienintegration entwickelt sowie ein umfangreiches Forschungsprogramm zu Realisierung dieser Vision “Intelligenter Virtueller Realitätssysteme”, “Imaginationsmaschinen” bzw. “Phantasiemaschinen”. Technologische Basis dieser Systeme sind massiv-parallele Computer, Hochgeschwindigkeitsnetzwerke, 3D-Display-Technologien, Verteilte VR-Systeme für n-User und intuitive Interface-Technologien: gesprochene und geschriebene Sprache, Handskizzen, Gestik, Mimik und Blickhandlungen, intuitive physische Handlungen, 3D-Animationen und Simulationen sowie intelligente Agenten bzw. Assistenzsysteme in Form synthetischer Aktoren.

Anwendungen der Modellierung emotionaler Prozesse könnten folgende sein:

a) Erkennen von Ausdrucksreaktionen (erste Systeme, die z.B. Mimik erkennen, sind schon realisiert, wie ein XPS-System von W.Schindler + B.Ahrens an der Psychiatrischen Klinik in Berlin.)

b) Erkennen von autonomen Reaktionen

c) Erkennen emotionaler Handlungen

d) Erkennen introspektiver Berichte über eigene Gefühle

e) Verwendung der Ergebnisse dieser Erkennungsprozesse in der Akteurmodellierung, um erkannte emotionale Prozesse und Zustände repräsentieren zu können (siehe hierzu Laucken 1973, Kobsa 1985, Kiefer 1988)

f) Verwendung dieser Akteurmodelle zu Kausalattributionen

g) Verwendung dieser Akteurmodelle zur Generierung neuer Formen kooperativer Handlungen

h) Modellierung emotionaler Prozesse als Teil komplexer KI-Systeme

i) Generierung von Ausdrucksreaktionen

j) Generierung emotionaler Handlungen

k) Generierung verbaler, eventuell introspektiver Berichte über Gefühle.

Ein einfaches Beispiel für die Generierung neuer Formen kooperativer Handlungen (g) könnten folgende Äußerungen eines natürlich sprachlichen Assistenzsystems sein: “Ich schlage dir vor, diesen Termin um eine Woche zu verschieben, du bist dann viel relaxter und hast nicht so viel Wut im Bauch” – oder: “Versuch doch nicht, jetzt dieses Problem zu lösen, du bist viel zu erregt, um einen vernünftigen Gedanken fassen zu können.”

Bei intelligenten Assistenzsystemen, die – als synthetische Aktoren verpackt – Interface-Funktionen wahrnehmen, sollte auch die Generierung von Ausdrucksreaktionen (i) mit hinzukommen. Die allgemeine Version dieser Anwendung bestünde in synthetischen Aktoren, die “Verpackungen” intelligenter Dienstleistungen aller Art sein können, z.B. einer fortgeschrittenen Version eines medizinischen KI-Systems.

Die Erkennung von Ausdrucksreaktionen (a) sowie u.U. das Erkennen emotionaler Handlungen (c) und die Generierung von Ausdrucksreaktionen (i) könnten eine weitere Anwendung ergeben – im Rahmen der modellbasierten Erkennung und Reanimation menschlicher Körper und menschlicher Handlungen. Hier kommt es nicht darauf an, kooperative Handlungen zu generieren, sondern z.B. mit einem VISION-System erkannte Mimik zu verwenden, um mittels automatisierter Animationsverfahren wieder eine photorealistische Animation des Gesichts zu generieren.

Ein Ziel all dieser Anwendungen sollte die möglichst vollständige Rekonstruktion der Face-to-face-Kommunikation sein, und zwar sowohl zwischen Menschen untereinander (z.B. in einer VR-Telekonferenz) wie zwischen Menschen und KI-Systemen und zwischen KI-Systemen.

Anwendungen expliziter Modellierungen emotionaler Prozesse (h) sowie der Generierung emotionaler Handlungen (j) und verbaler Berichte (k) und von Ausdrucksreaktionen (i) wären die vielfältigen Einsatzgebiete synthetischer Aktoren, vom synthetischen Nachrichtensprecher über synthetische Filmschauspieler bis zu synthetischen Aktoren in neuen Formen von Künsten und Medien, z.B. in einer neuen Form interaktiven virtuellen Theaters.

Ein Einstieg in diese Anwendungen könnte die Kopplung und Integration zweier Systeme sein, wobei ein System auf einer “groben” phänomenologischen Ebene emotionale Prozesse in Interaktion mit anderen mentalen Prozessen modelliert – ein Beispiel hierfür wäre Parry oder eine weiterentwickelte Version von Parry -, während das andere System mit Verfahren der Computeranimation Ausdrucksreaktionen und emotionale Handlungen/Verhaltensweisen der synthetischen Aktoren gene- riert.

Ein Beispiel für ein solches CA-System ist das Human Factory System (siehe Thalmann + Thalmann, 1987); in Abb. 4 ist die Grobarchitektur dieses Systems dargestellt. Mit einem derartigen System könnten emotionale Dialogsequenzen à la Parry als Teil emotionaler Verhaltensweisen synthetischer Aktoren automatisch generiert werden. Die nebenstehenden Abbildungen zeigen Beispiele synthetischer Aktoren.

Ein weiteres Einsatzgebiet der Anwendungen (a) bis (k) könnte die experimentelle Entwicklung neuer Interface-Formen, neuer Formen der Interaktion und neuer Medien sein.

In einem Teil des Forschungsprogramms “Imagination at Work” habe ich die Konzeption von “Leonardos Factory” entwickelt, eine Anwendung von intelligenten VR-Systemen bzw. Imaginations- und Phantasiemaschinen, die es ermöglichen werden, virtuelle Welten aller Art zu erschaffen, eine Art “Weltbaukasten” für Künstler/Wissenschaftler der Zukunft.

Hintergrund dieser Konzeption von “Leonardos Factory” ist meine Überzeugung, daß Künstler/Wissenschaftler der Zukunft u.a. Gestalter virtueller Welten sein werden. Ein wesentlicher Teil von “Leonardos Factory” ist ein “Baukasten” zum Design neuer Formen von Interface, Interaktion und Medien, der es z.B. ermöglichen wird, eine Kombination aus auditiver, visueller Interaktion über visualisierte auditive 3D-Objekte (sichtbare Töne), gestischer Interaktion und emotionaler Interaktion als neues Interaktionsmedium experimentell zu untersuchen. Veränderungen von Emotionen, u.U. direkt über Sensoren für physiologische Parameter (Hautwiderstand etc.) erkannt, oder z.B. über Detektoren für obligatorische Reflexe, die emotional moduliert werden, könnten z.B. Form, Farbe, Textur und die Dynamik der auditiven 3D-Objekte transformieren bzw. modifizieren.

Eine andere Möglichkeit einer neuen Interface-Struktur könnten synthetische Darsteller sein, deren Handlungen, aber auch deren Aussehen über Veränderungen von Emotionen gesteuert und modifiziert werden.

Weitere Möglichkeiten neuer Interaktionen, die ganz oder partiell über Emotionen gesteuert und kontrolliert werden können, wären virtuelle Konzerte, virtuelle Bilder und virtuelle Landschaften. Im Fall virtueller Konzerte könnten die Emotionen steuernden und kontrollierenden Einfluß auf Kompositionsprogramme haben, im Fall der virtuellen Bilder könnten sie die Auswahl der Bilder steuern, deren Farbe etc. Im Fall der virtuellen Landschaft könnten Emotionen, zusammen mit anderen physiologischen Parametern, diese direkt steuern; z.B. würde bei einem bestimmten Emotionsübergang aus einer Wüste eine winzig kleine Insel mitten im Meer. Das könnte Teil einer “virtuellen Meditationsperformance” sein.

Insgesamt soll “Leonardos Factory” innerhalb “von Imagination at Work” eine Art Meta-Experimentierlabor sein, ein doppeltes Metamedium (siehe auch Kiefer 1991b), wo neue Welten, neue Medien und neue Formen der Interaktion erfunden, entwickelt, erlebt, getestet und optimiert werden können. Fast alles, was mit dem Erkennen und Modellieren von Emotionen gemacht werden kann, wird die Möglichkeit von “Leonardos Factory” und verwandten Ansätzen außerordentlich bereichern.

Noch eine letzte Frage:

Angenommen, wir wären in der Lage, das gesamte IV-System des Menschen zu modellieren, inkl. der Gefühle. Sollten wir das tun? Ich denke, um empirisch herauszufinden, wie das gesamte IV-System des Menschen funktioniert, sollten wir das tun; zum Zwecke von Anwendungen sollten wir es aber nicht tun.

Warum? Die Evolution hat uns so gut und so schlecht gemacht, wie wir nun mal sind. Faktisch hat sie uns so gemacht, daß wir schon überaus leistungsfähige Systeme sind, daß wir andererseits aber auch klar erkennbare Leistungsdefizite haben, vor allem im Umgang mit komplexen Systemen, wie es z.B. Städte, Ökonomien und Ökosysteme sind. Gerade die vielen außerordentlich wichtigen Untersuchungen von Dörner und Mitarbeitern haben das sehr klar gezeigt (Dörner 1983, 1989, Reither, 1985).

Die Evolution hat uns offensichtlich so designt, daß wir gerade dann, wenn es überlebensnotwendig wäre, vernünftig zu agieren, hierzu nur höchst unzureichend in der Lage sind, was natürlich äußerst fatal ist. Jeder Blick in die Nachrichten oder in eine Zeitung zeigt diese Leistungsdefizte. “Schuld” daran sind nicht die Gefühle und Emotionen alleine (diese stehen ja im Dienste mächtigerer Herren: der Verhaltensprogramme, letztlich des Genoms).

Was kann man daraus lernen? Stellt man die Frage, wie vernünftig unser angeblich so rationales Verhalten und Handeln ist, so ist klar, daß es gerade da, wo es darauf ankommt, sehr unvernünftig ist, daß wir also nur sehr eingeschränkt zu rationalem Handeln in der Lage sind. Es wäre schon sehr dumm, Systeme mit einem solchen Leistungsspektrum, wie wir es haben, künstlich zu produzieren (außerdem gibt es ja eine natürliche, billige Methode hierzu). Ich denke, was wir brauchen, ist nicht weniger Rationalität, sondern überhaupt erst mal Rationalität, und sei es auch nur die bescheidene, eingeschränkte Rationalität Simons. Noch dringlicher wäre allerdings Rationalität gepaart mit Weisheit, aber das scheint beim Weg in den ökologischen Untergang menschliche Möglichkeiten endgültig zu überfordern.

ANMERKUNGEN
1 Daß Menschen Tiere sind, sollte über 100 Jahre nach Darwins Arbeiten eigentlich bekannt sein. Wer es immer noch nicht weiß, schaue am besten in einem modernen Zoologie-Lehrbuch nach (z.B. Remane et al. 1991) und bemühe ein wenig sein logisches Denkvermögen.
2 Ein Rahmenmodell somatosensorischer Wahrnehmung habe ich in Kiefer 1992b entwickelt.
3 Heute wird der Begriff “Limbisches System” in einem weiteren Sinn gebraucht, der überwiegend funktional definiert ist und der auch den Hypothalamus umfaßt.
4 Die folgende Theorie bewußten Emotionserlebens basiert auf meiner Dissertation, in der ich eine allgemeine Theorie komplexer mentaler Systeme mit Bewußtseins-, Introspektions- und Reflexionsfähigkeit entwickelt habe.
5 Neben dieser Gruppe von Bewußtseinsprozessen gibt es begleitende reflexive Prozesse und phylogenetisch alte Bewußtseinsprozesse (Prozesse zur Erkennung des eigenen Schattens, des eigenen Geruchs, Prozesse zur Steuerung von Wachen und Schlafen u.a.).
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Erich Kiefer, geb. 1951, studierte bildende Kunst an der Städelschule, später Psychologie, Philosophie, Biologie, KI und Linguistik. Promotion über Metakognition und Introspektion.1988-91 Leitung der Schulung und Entwicklung bei einer Frankfurter, seit 1992 bei einer Duisburger CAD/CAM-Firma. Er entwickelte für die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung sowie für andere Forschungsinstitute das Programm “Imagination at work”. Zur Zeit entwickelt er im Rahmen eines Verbundprogramms des BMFT “FABEL”, eine integrierte Wissensrepräsentation für Semantik, Geometrie, Topologie und visuelle Oberflächeneigenschaften.