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Titel: Kunst und Philosophie · S. 262 - 269
Titel: Kunst und Philosophie , 1989

Bernhard Lypp
Über das Verhältnis von Kunst und Leben – nach Nietzsche

Nietzsches Lehrgedicht über das Verhältnis von Kunst und Leben, als das wir seine Tragödienschrift zu nehmen haben, ist als eine rätselhafte Verbindung metaphysischer Daseinsdeutung mit der symbolischen Vergegenwärtigung dieser Daseinsdeutung konzipiert. Erst aus dieser Verbindung entsteht nämlich ein tragisches Gleichnis der Welt. Die ausgeführte Schrift über die Bedeutung der Tragödie hat gerade wegen dieser rätselhaften Verbindung den Nimbus des Esoterischen erreicht. Sie präsentiert sich ihrem Leser nämlich in einer Form, die durch das systematische Verschwimmen dieser beiden Bedeutungshorizonte gekennzeichnet ist. Metaphysische Daseinsdeutung und der symbolische Prozeß des Tragischen mögen der bekannten Unterscheidung von Katharsis und Mimesis aus der aristotelischen Tragödiendefinition nachempfunden sein, in Wahrheit will Nietzsche diese Unterscheidung aber hinfällig werden lassen. An die Stelle dieser Unterscheidung hat er in seiner Tragödienschrift die Rede von einem ästhetischen Gleichnis der Welt gesetzt. Im Folgenden sollen nur die Perspektiven thematisch sein, in denen sich nach Nietzsches Meinung ein solches Gleichnis der Welt als ein symbolisches Verhältnis realisiert. Um diese Perspektiven verstehen zu können, ist es aber notwendig, die Daseinsdeutung kurz zu kennzeichnen, die das symbolische Verhältnis des Tragischen schließlich transportiert.

I.

Den Rahmen der Daseinsdeutung, die sich zu einem Gleichnis der Welt verdichtet, bezeichnet Nietzsche anhand der bekannten Begriffsopposition des “Dionysischen” und “Apollinischen”. In diese Begriffsopposition ist ein Verhältnis der Entzweiung eingerahmt, das man als Selbstentzweiung des Lebens zu verstehen hat. Insofern sich diese Entzweiung aber als Doppelsinn des “Dionysischen” und des “Apollinischen” begreifen läßt, ist mit einer tragischen Daseinsdeutung die Irrealisierung faktisch sich vollziehenden Lebens als eines grundsätzlichen Verhältnisses des Widerstreits verbunden. Sie irrealisiert den lebendigen Widerstreit nämlich zum “ästhetischen Phänomen”. Nietzsche meint deshalb, nur als ein ästhetisches Phänomen ließe sich der Widerstreit, als welchen wir uns das Leben vorzustellen haben, festhalten und zugleich rechtfertigen. Das “Ästhetische” dieser Rechtfertigung besteht aus einem Gleichnis, das fiktiv ist und als fiktives das faktische Leben irrealisiert. Nietzsche spricht deshalb vom “Als-ob”-Charakter des Scheins vereinigten Lebens, der durch das wechselweise Verwiesensein des Dionysischen und des Apollinischen aufeinander entsteht. Vollziehen wir dieses Verwiesensein nach, dann scheint es uns, als hielte sich das Leben selbst den Spiegel seiner Deutung vor und rechtfertige sich – als ein ästhetisches Phänomen. Insofern es dies aber tut, arbeitet es an seiner eigenen Irrealisierung mit. Zuletzt will Nietzsche natürlich, daß der Leser seiner “Geburt der Tragödie” diese Irrealisierung vollzieht, indem er sie selbst als ein ästhetisches Gleichnis der Welt an die Stelle faktischen Lebensvollzuges setzt.

Als Leser des Traktats über das Verhältnis von Kunst und Leben ist man aber zuerst einmal gezwungen, sich die Begriffsopposition des “Dionysischen” und “Apollinischen” in einer Weise verständlich zu machen, die von Nietzsches Sprache unabhängig ist. Nicht zuletzt davon hängt es ab, ob man einen Zugang zur metaphysischen Daseinsdeutung dieses Traktats gewinnt. Die Art und Weise, in der Nietzsche das “Apollinische” mit dem “Dionysischen” verklammern will, läßt sich nun als Gegenwendigkeit von Erschütterung und Entlastung begreifen. In der Gegenwendigkeit von Erschütterung und Entlastung ist die metaphysische Daseinsdeutung verankert, die er in seinem Traktat über das Verhältnis von Kunst und Leben zu geben versucht – so lautet die Grundvoraussetzung der hier gegebenen Interpretation seiner Tragödienschrift. Er will, zumal natürlich anhand des tragischen Erfahrungsprozesses, zeigen, daß sich die Selbstentzweiung des Lebens nur in der gegenwendigen Verklammerung von Erschütterung und Entlastung als Widerstreit aushalten und rechtfertigen läßt. Erst in seiner gegenwendigen Verklammerung irrealisiert sich nämlich der Widerstreit des Lebens zum “ästhetischen Phänomen”.

Wie hat man die gegenwendige Verklammerung von Erschütterung und Entlastung zu verstehen? Erschütternd muß man eine Übermacht nennen, der der Mensch nicht widerstehen kann. Er wird in deren Wirbel gerissen – oder er kann sich ihr gleich überlassen. Diese Übermacht bricht in einer Allgemeinheit in die Erfahrung des Menschen ein, die sich grundsätzlich nicht individualisieren und in eine Lebensform umbilden läßt, die dem einzelnen Menschen kommensurabel ist. Dieser Einbruch trägt selbst doppeldeutige Züge; er führt nämlich den Schrecken und die panische Angst vor dem Verlust je einzelnen Lebens mit sich. Als solcher springt er den Menschen an und verschlingt die Linien einzelnen Lebens. Aber dieser Einbruch erzeugt auch ein Lustgefühl, in dem man das je einzelne Leben und die mit ihm verbundene Daseinsfürsorge einfach los wird. Daher die “süße Qual”, als die sich der Einbruch einer Übermacht in das je einzelne Gefängnis des Lebens erfahren läßt. Gibt man sich ihm bedingungslos hin, dann läßt sich das Erlebnis, einer Übermacht ausgeliefert zu sein, sogar in blinder Zerstörungswut verstärken. Nietzsche deutet diesen doppeldeutigen Mechanismus von Hingabe und Zerstörung, indem er sich an naturphilosophische Spekulationen anschließt, als die Qual der Natur und des sich entzweienden Lebens. Insofern vollzieht sich das Leben selbst als eine sich fortzeugende”Natur-Kunst-Gewalt”, von welcher die je einzelne menschliche Lebensform nur ein Teil ist. Der Satz, es wäre besser nicht geboren zu sein, den Nietzsche als die Mitteilung pessimistischer Lebensweisheit versteht, wiederholt diesen Sachverhalt und spricht nur die Tatsache aus, daß man das Sich-Austoben dieser Natur-Kunst-Gewalt nicht verstehen, noch gar beherrschen kann. Im Grunde bleibt nur, die “Erlösung” von ihr zu suchen.

Das Ende individuierten Lebens, auf das die Erlösung von der Übermacht des Lebens aus ist, wäre gleichbedeutend mit dem Eingehen in die Differenzlosigkeit des “Ureinen”. In dieser kann das Leben als ein sich widerstreitendes Verhältnis aber gar nicht mehr fühlbar werden. Der Raserei und der Trunkenheit, die den Willen nach einer derartigen Erfahrung der Differenzlosigkeit begleiten, tritt daher als Einhalt gebietende Macht die Lebenstendenz entgegen, die Erschütterung dieser Erfahrung nicht einfach zu vollziehen, sondern sie faßlich zu machen und sich von ihr als faßlicher zu entlasten. Diese Lebenstendenz ist wesentlich als Wille zu verstehen, sich auf eine je eigene Lebensbahn zu begeben, oftmals auch als Wille, sich über die Möglichkeit erschütternder Übermacht des Lebens hinwegzutäuschen und auf einer je einzelnen Lebensführung zu beharren. Auch zur Kennzeichnung dieser Lebenstendenz nimmt Nietzsche naturphilosphische Spekulationen zur Hilfe. Er spricht von der heilenden und helfenden Natur, die das individuelle Leben unterstützt. Als heilende und helfende Natur erzeugt sie nämlich aus sich heraus den Schein, als ließe sie individuelle und je einzeln identifizierbare Lebenslinien des Menschen wirklich zu. Es entsteht sogar der Schein, als ließen sich diese mit der Allgemeinheit der Übermacht des ganzen Lebens vereinen.

Die Erzeugung solchen Scheins ist aber bereits als das Resultat einer Bewegung zu werten, in die die beiden genannten Lebenstendenzen, in die Erschütterung und Entlastung sich gegenseitig hineintreiben. Nietzsche spricht davon, daß sich das “Dionysische” und das Apollinische” gegenseitig “reizen, sich gegenseitig “umbiegen” und “umbrechen” und, insofern sie dies tun, sich gegenseitig in den Dienst nehmen. Sie tun es in der Irrealisierung der faktischen Lebenstendenzen zu einem ästhetischen Phänomen. Dieses ist ja als die gegenwendige Verklammerung von Erschütterung und Entlastung zu werten. Das ästhetische Phänomen, von dem Nietzsche handelt, enthält also in sich wenigstens zwei gegenläufige Bedeutungsrichtungen, die sich in einem Gleichnis der Welt treffen und in ihm als Wirbel und Kreuzungspunkt vereinigen.

Die eine Bedeutungsrichtung läuft von einer im Grunde unfaßlichen Allgemeinheit und Übermacht, der man sich als je einzelner Lebendiger nur in Trunkenheit und Raserei gleichmachen kann, zu ihrer Vergegenständlichung und Faßlichkeit hin. Als eindringlichstes Beispiel für diese Bedeutungsrichtung kann der Verlauf gelten, den Nietzsche zwischen dem Leiden des Menschen und seiner Fähigkeit zum Mitleiden konstruiert. Er vollzieht sich nämlich als eine Übertragung phobischer Erschütterung und elementarischen Schreckens, die als solche unaushaltbar sind, auf einen einzelnen Charakter. Dann scheint es, als ob die Unbestimmtheit erschütternden Leidens an diesen gebunden und gefesselt sei; es scheint ferner, als sei man mit der Gestalt, welche diese Unbestimmtheit auf sich zieht, im Mitleiden vereint. Nietzsche meint von Beginn an, der Mechanismus dieser Übertragung und des damit einhergehenden Gefühls, man sei wirklich in eine andere Individualität eingegangen, könne nur als eine scheinhafte Schematisierung und nicht als ein Verhältnis wissender Bezugnahme auf eine Gestalt des Lebens gewertet werden.

Wenn das aber so ist, dann kann eine derartige schematisierende Übertragung grundsätzlich nicht als Selbstbetrug und als Täuschung verstanden werden; vielmehr kommt sie einer helfenden Illusion gleich. In helfenden Illusionen – Nietzsche nennt diese “apollinische Kunstmittel” – entlastet sich derjenige, der von ihnen Gebrauch macht, von einer ihm unverständlichen Allgemeinheit, indem er sie an eine faßliche Gestalt bindet und ihr eine fixierbare Bedeutung verleiht.

Nietzsche vermag die Bewegungsrichtung, die von der raum-zeitlich identifizierbaren Welt und dem Selbstbezug des je einzelnen Individuums in die dionysische Ungebundenheit verläuft, nicht mit ähnlicher Konsequenz zu kennzeichnen. Er spricht von der Depotenzierung faßlicher Konventionen und festgestellten Wissens zu einem scheinlosen Ausdruck sich widerstreitenden Lebens. Werden die apollinischen Formen der Vereinzelung und der Faßlichkeit des Lebens nicht in diese Bewegung gerissen, dann verlieren sie ihren entlastenden Charakter und werden zu erstarrten Hülsen und zu bloßen Konventionen der Erfahrung. Als solche bändigen sie aber den Widerstreit des Lebens nicht, sondern schließen ihn aus.

II.

Nietzsche will nun aber zeigen, wie sich die gegenwendige Verklammerung von Erschütterung und Entlastung symbolisch vollzieht; und er will zeigen, wie sie sich als ein theatralischer Prozeß realisiert. Daß derartige Überlegungen schon das Entstehen der Tragödienschrift begleitet haben, verdeutlicht ein Brief (7. Okt. 1869) an seinen Freund Rohde. Dort spricht er über die ästhetischen und kunsttheoretischen Perspektiven seiner Tragödienschrift im engeren Sinne und meint, sie würden ihn weit über die Abgrenzungsversuche von Malerei und Literatur hinausführen, die seit Lessings Laokoonprojekt bekannt geworden sind. Der daseinsdeutende Hintergrund dieser Gewißheit ist mit der Frage verbunden, wie sich Leiden und Erschütterung als Zeichen des Menschlichen in einem ästhetischen Prozeß überhaupt mitteilen lassen, um sie in der Mitteilung wenigstens faßlich und erträglich zu machen. Damit ist dann die zweite Frage verbunden, ob diese Faßlichkeit auf den in seinem Grunde unverständlichen Widerstreit des Lebens zurückwirken kann, um ihn als solchen zu verklären.

Die Frage nach dem symbolisch-theatralischen Prozeß des Tragischen verdankt Nietzsche Wagner und dessen schriftstellerischer und musikalischer Produktion. Er meint ja schließlich selber, er habe in seinem Traktat über das Verhältnis von Kunst und Leben sein Verhältnis zu Wagner und dessen Kunst “petrifiziert”. In der ausgeführten Tragödienschrift geht Nietzsche ja auch bedenkenlos zwischen Anmerkungen zur griechischen Tragödie und zu Wagners Kunst, zumal zu “Tristan und Isolde”, hin und her. Schließlich redet er sogar von der “musikalischen Tragödie” und meint, seine Schrift werde deren Wirkung und den symbolischen Transport des Tragischen verständlich machen. Die kunsttheoretische Grundformel, durch deren Gebrauch Nietzsche den symbolischen Transport des Tragischen erschließen will, ist die von der “Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen”. Diese Gesamtentfesselung vollzieht sich nämlich als “musikalische” Tragödie. Im Gebrauch dieser Grundformel ist die semiologische Antwort enthalten, die Nietzsche auf Lessings Gedanken zur Abgrenzung von bildender Kunst und Literatur zu geben versucht. Welches sind die Perspektiven, die er sich im Gebrauch dieser Grundformel eröffnet hat?

Der erste Anlaß zu der Suche nach den Kennzeichen symbolischer Realisierung einer tragischen Daseinsdeutung geht von Nietzsches Eindruck aus, wir besäßen für das Verständnis eines tragischen Erfahrungsprozesses keinen Maßstab. Gleiches gilt aber für Wagners avancierte Kunst und ihr “musikdramatisch” sich vollziehendes Geschehen. Nietzsche vermutet, indem er sich auf die Suche nach dem vollen Sinn seiner semiologischen Grundformel begibt, es ließe sich ein Maßstab für die Ausdruckswucht des Tragischen und für Wagners avancierte Kunst finden. Man muß beide nämlich als das Resultat einer Verstärkung begreifen, die verschiedene künstlerische Medien aufeinander ausüben; musikalischer Ausdruck dient als Mittel zur Verstärkung dramatischer Wirkung. Nietzsche nimmt Wagners Unterscheidung von “Musik” und “Drama” auf und handelt zunächst von der Erfahrung des Tragischen als einem musikdramatischen Erregungsprozeß. Sogar Wagner hat die bedenkenlose Anwendung seiner Unterscheidung von Musik und Drama auf den symbolischen Prozeß des Tragischen kritisiert.

Den ersten Bedeutungsaspekt, durch den der kunstsymbolische Prozeß des Tragischen fernerhin zu kennzeichnen ist, hat Nietzsche unmittelbar von Wagner übernommen. Dieser Prozeß vollzieht sich nämlich als ein gesamtkünstlerischer. Nietzsche hält diesen Aspekt in der semiologischen Grundformel von der Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen sogar noch sprachlich aufrecht. Ob dieser Austausch- und Ausdrucksprozeß der einzelnen Künste als eine Verstärkung verstanden werden kann, die ein ästhetisches Medium, die Musik, auf ein anderes, das Drama oder den literarischen Text, ausübt, verliert demgegenüber schließlich seine Bedeutung. Als ein gesamtkünstlerischer Ausdrucksprozeß läßt er sich auch am Beispiel der Plastik zeigen. Nietzsche verweist auf die Untersuchungen des Archäologen Feuerbach und zitiert dessen Deutung der antiken Plastik als einer “Gesamtkunst”. Welches ästhetische Medium man auch wählt, um an ihm die These vom symbolischen Transport eines gesamtkünstlerischen Prozesses zu erhärten, entscheidend bleibt, daß man zu dem “urdramatischen” Kern jeden Kunstwerks vorstößt. Nietzsche meint, in der Theatralisierung der Künste finde dieser die einzelnen Künste verbindende Kern in je verschiedenen Medien des Ausdrucks seine Realisie- rung. In der ausgeführten Tragödienschrift handelt er schließlich von sogenannten “Sphären” des Ausdrucks, die sich an den Stellen ihrer Berührung und Angrenzung in ihrer Ausdruckskraft steigern. In der gegenseitigen Steigerung ihrer Ausdruckskraft negieren die einzelnen Künste ihre Vereinzelung und erweitern sie ihre symbolischen Verfahren.

Die eigentliche Pointe der Theatralisierung der Künste ist aber woanders zu suchen. Diese Pointe ist zunächst nur in das Verhältnis der Verstärkung eingekapselt, in dem sich Musik und Drama in einem tragischen Ausdrucksprozeß zueinander verhalten. Und sie besagt, in seiner Theatralisierung und darin, daß sich der ästhetische Erfahrungsprozeß als ein gesamtkünstlerischer vollzieht, erreicht er seine Ausdruckswucht, die einer sich ereignenden Macht gleichkommt. Diese Macht ist als ein performatives, sich als Aufführung erzeugendes Geschehen zu werten. Das ist der “urdramatische” Sinn der Kunst, der die einzelnen Künste im symbolischen Transport des Tragischen zu einem gesamtkünstlerischen Prozeß vereint. Aufgrund ihres performativen Kerns sind die je verschiedenen Künste miteinander verbunden, ganz gleich, ob diese Verbindung sich nun nach Maßgabe der Verstärkung ihrer Ausdruckskraft vollzieht oder nicht.

So ist der performative Zug das grundlegende Kennzeichen des symbolischen Transportes, der sich zuletzt zu einem Gleichnis der Welt verdichtet. Der Vereinigung verschiedener Künste zu einer sich in der Aufführung erzeugenden Macht entspricht Nietzsches Versuch, eine andere Unterscheidung hinfällig werden zu lassen. Das ist die Unterscheidung von “Kunstproduzent” und “Kunstrezipient”. Nietzsche will zeigen, daß eine derartige Unterscheidung auf den symbolischen Transport des Tragischen nicht angewendet werden darf. Der urdramatische Kern des ganzen Kunstprozesses muß auf den Zuschauer und Zuhörer übergreifen und diese in den Kunstprozeß hineinziehen. Sie dürfen nicht als externe Größe bestehen bleiben. Zunächst vollzieht sich dieser Übergriff nur, insofern Zuschauer und Zuhörer von einem Ausdrucksgeschehen in die Ekstase und das Außersichsein getrieben werden. Das ist die Wirkung zumal der Musik, die schon Aristoteles als enthusiastische gekennzeichnet hat. Nietzsche will aber auf einen anderen Gedanken hinarbeiten. Ein symbolisches Verhältnis, das sich als Aufführung selbst erzeugt, muß auch den ihm zugehörenden Betrachter, den passenden Zuhörer herausbilden. Erst in dieser These erhält die Auffassung von der Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen auch eine “wirkungsästhetische” Durchschlagskraft.

Entscheidende Passagen der Tragödienschrift sind in der Fluchtlinie einer derartigen Forderung zu begreifen. In welchem Verhältnis nämlich die Sphären des Ausdrucks, welche den tragischen Erfahrungsprozeß in symbolischen Formen transportieren, zueinander stehen mögen, er ist erst in dem Augenblick vollendet, in dem Betrachter und Zuhörer als Zeichen und Manifestationen dieses Prozesses gelten können. Dann erst kann man mit Recht sagen, ein ästhetisch sich realisierendes Geschehen könne von einem externen Betrachter gar nicht verstanden werden. Auch gilt dann erst, daß die im Kunstprozeß sich erzeugenden Manifestationen dieses Prozesses zu ihm nicht in das Verhältnis wissender Bezugnahme treten können. Sie gehören ihm nämlich, sofern er als ein sich realisierendes Geschehen zu verstehen ist, selbst zu.

Nietzsche will in seinem Traktat über das Verhältnis von Kunst und Leben demgemäß zeigen, daß unser Wissen von einem sich symbolisch realisierenden und in seinen Manifestationen erzeugenden Kunstprozeß vollkommen illusorisch ist. Als solcher wirkt es sogar an der Irrealisierung des Lebens durch diese These in ein Bild. Er sagt, unser Wissen von den symbolischen Mechanismen der Kunst ließe sich mit dem Wissen vergleichen, das die auf der Leinwand dargestellten Krieger von dem Geschehen des Kampfes haben, von dem sie selbst ein Teil sind. So wie diese auf das gesamte Geschehen zurückverwiesen sind, so ist auch der “Rezipient” eines Kunstprozesses auf diesen selbst verwiesen. Nietzsche vertritt die These, man wisse von den symbolischen Mechanismen eines Kunstprozesses gerade so viel, als man mit ihnen “verschmilzt”, wie er sagt.

In dieser Verschmelzung liegt die Anmutung an den Kunstrezipienten, an der symbolischen Vergegenwärtigung der Kunst selbst mitzuwirken. Erst wenn das der Fall wäre, könnte man mit Recht von einer Wirkung zumal der tragischen Kunstform sprechen. Diese ist nämlich erreicht, sobald der symbolische Prozeß des Tragischen mit der Entfaltung und der Entzweiung des Lebens Schritt hält. Es ist nun aber als entscheidendes Kennzeichen eines Kunstprozesses, der mit der Entwicklung des Lebens Schritt hält, zu werten, daß er nichtreproduzierbar sein kann; als eine sich ereignende Macht muß er ständig vollzogen werden. Das Gefühl der Maßstablosigkeit einem musikdramatischen sowohl wie einem tragischen Geschehen gegenüber ist gerade mit der Nichtreproduzierbarkeit dieses Grundzuges verbunden. Formuliert sich dieser Grundzug bis zu einem ästhetischen Gleichnis der Welt aus, erzeugt er die tragische Kunstform, dann geht mit dieser Erzeugung auch die “Wiedergeburt” eines ästhetischen und nicht eines sonstwie gearteten Zuschauers einher. Das ist doch die entscheidende “wirkungsästhetische” Botschaft, die uns Nietzsches ausgeführter Traktat über das Verhältnis von Kunst und Leben vermitteln will.

Somit ist es verständlich geworden, daß die Tragödienschrift, in der Nietzsche sein Kunstprogramm vorstellt, eine Beschimpfung des modernen “Puplikums” und der gegenwärtigen “Kunstwelt” enthält. Es ist zudem verständlich geworden, daß Nietzsche die Erzeugung eines ästhetischen Zuschauers, der den symbolischen Prozeß des Tragischen selbst vollzieht, mit der Hoffnung auf die Einrichtung einer Bayreuther Kunstgemeinde verbunden hat. Und schließlich zeigten gerade der fixierte Stückekanon dieser Kunstgemeinde sowie der dazugehörende Kulturtourismus eine Weise der Entlastung von dem symbolischen Transport des Tragischen, durch die sein nichtreproduzierbarer Bedeutungskern zerstört werden muß.

An einer eindringlichen Stelle der Tragödienschrift gibt Nietzsche ein Beispiel für die Transparenz und die gleichzeitige Ungreifbarkeit des performativen Kernes der von ihm vorgestellten Kunstwelt: “Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgstal: die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysos offenbar wird.” Das Sein dieser Szene ist wie das Bild einer Wolke, das den Unterschied zwischen natürlichen und artifiziellen Ausdrucksformen zum Verschwinden bringt. Das ist der Fall, sobald sich der urdramatische Sinn eines gesamtkünstlerischen Ausdrucksprozesses in unterschiedene Ausdrucksformen auseinanderlegt. Die Übertragungsmechanismen, die dabei entstehen, lassen im Gegenzug den Unterschied von Natur und Kultur verschwinden und setzen eine Rhythmik des Imaginären frei, die zur eigentlichen Rahmung der Wirklichkeit wird. So kann ein Gebirgstal genauso wie die theatralische Bühne zum Berg der Wahrheit werden. Nietzsche meint, in einer derartigen Rhythmik des Imaginären sei eine Selbstverwandlung des Lebens am Werk, die seine religiöse Tiefendimension zum Greifen nahe bringt. Insofern verwandelt sich das Leben selbst zu einem gesamtkünstlerischen Prozeß. Es ist Nietzsches grundlegende These, daß die Erschütterung der Alltagswelt, welche mit einer derartigen Selbstverwandlung des Lebens einhergeht, nicht mit dem Grauen und dem Schrecken gleichgesetzt werden kann, die sich des Menschen bemächtigten, wenn das Kategoriensystem einer Erfahrung und die raum-zeitliche Ordnung seiner Weltanschauung zusammenbrechen.

III.

Transparenz und Ungreifbarkeit, in die sich das Leben in einem gesamtkünstlerischen Prozeß symbolisch verwandelt, werden in der Ungebundenheit des dionysischen Festes unmittelbar ausagiert. Im dionysischen Fest zumal verwirklicht sich der zweite entscheidende Bedeutungsaspekt, den Nietzsche mit dem symbolischen Transport des Tragischen verbindet. Dort realisiert sich in kultischer Form, was im symbolischen Prozeß des Tragischen nach gespielt werden muß. Das dionysische Fest, die Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur, vollzieht sich nämlich in anarchischer Ungebundenheit. In der zitierten Passage aus der Tragödienschrift ist diese grundsätzlich nichtinstituionalisierbare Ungebundenheit als freies “Herumschwärmen” bezeichnet. Herumschwärmend feiert sich das Leben in seinen Manifestationen selbst und reißt die Schranken und Konventionen nieder, in denen es zu einem je einzelnen Gehäuse festgestellt ist. Nietzsche beschreibt diese mythische Feier des Lebens im dionysischen Fest mit Begriffen der neueren Kulturkritik, um mit ihrer Hilfe zu sagen, in ihm steigere sich ein unzerstörbarer Ausdruckswille des Menschen über das sentimentalische Rückrufen der einen und ungeteilten Natur hinaus zu einem Rasen, in dem die Fesseln konventioneller Lebensführung zerspringen. Wenn irgendwo, dann wird in diesem Rasen die Vorstellung vollzogen, nur im Austobenlassen seiner Leidenschaften könne sich der Mensch von ihrem unterdrückten Übermaß befreien. In der kathartischen Deutung der Tragödie wird diese Vorstellung dann ja zur entscheidenden Wirkung der Kunst gemacht. Die kathartische Deutung der Tragödie ist ganz darauf festgelegt, das Verhältnis von Kunst und Leben therapeutisch zu begreifen. Die Kunst ist zu verstehen als Lebenstherapie, welches Verständnis nur leicht verschoben ist, wenn man die gelungene Lebenstherapie gleich als “Erlösung” von der Unverständlichkeit des Lebens und als Befreiung von seinen sich widerstreitenden Tendenzen bezeichnet.

Nietzsche hingegen meint, im Prozeß des Tragischen werde die Vereinigung des Menschen mit der Natur und die Wiederbringung ungeteilten Lebens, die im dionysischen Fest unmittelbar vollzogen wird, als ein symbolisches Verhältnis nachgespielt. In diesem Nachspiel macht sich eine Kultur die “Schwebegerüste eines fingierten Naturzustandes”, wie er sagt, zurecht; insofern hat man das Nachspiel auch als ein artifizielles Vorspielen zu verstehen. Aus dem Fest und der kultischen Orgie entsteht die tragische Kunstform. Diese ist als eine Pathosformel und als ein Erinnerungsbild ungebundener Raserei des Menschen zu verstehen. Pathosformeln und Erinnerungsbilder sind somit von Beginn an die Stelle orgiastischer Raserei getreten. Aber als Erinnerungsbilder oder Pathosformeln können sie nur gelten, wenn sie die gesamten symbolischen Kräfte des Menschen entfesseln und in Aufregung und Tätigkeit versetzen. In dieser entfesselten Tätigkeit greifen, analog zum Rasen der Affekte des Menschen im dionysischen Fest, musikalischer, visueller und sprachlicher Ausdruck ineinander und steigern sich gegenseitig. In dieser Steigerung der symbolischen Fähigkeiten des Menschen wird die Kunst nicht lebendig, auch geht das Leben nicht in die Kunst über, wie es Burckhardt anhand der Feste der Renaissance beobachtete, sondern die Welt kann überhaupt nur als ihre symbolische Vergegenwärtigung verstanden werden, und als solche ist sie als “Kunstwelt” zu bezeichnen. Die exemplarische Form, zu der sich dieser gesamtkünstlerische Prozeß theatralisch verdichten kann, nennt Nietzsche ein tragisches Gleichnis der Welt.

Zu der symbolischen Formation einer gleichnishaften Weltdeutung gehört aber noch ein dritter Bedeutungszug. Auch diesen gewinnt Nietzsche erst, indem er ein tragisches und ein musikdramatisch artikuliertes Geschehen miteinander in Verbindung bringt. Der rätselhafte Kern eines tragischen Gleichnisses der Welt läßt sich nämlich nicht umstandslos vertexten und in der Lektüre wiederholen. Die Unverfügbarkeit seiner Ausdruckswucht ist von “ungeschriebenen Gesetzen” geprägt, sie ist eigentlich schriftlos und widersetzt sich ihrer notationellen Fixierung. Als Ausdruckswucht ist sie von ihrer schriftlichen Repräsentation her nicht zu verstehen. Auch diese Tatsache vermittelt dem, der sie zu rekonstruieren hat, den Eindruck der Maßstablosigkeit. In der ausgeführten Tragödienschrift ist dieser Bedeutungsaspekt der musikalischen Tragödie in nahezu ausschließlich polemischer Form wiederzufinden. Er macht Nietzsches Polemik gegen die Kunstform der Oper sowie gegen die Rolle der Musik als einer Illustration von Text und Bild erst verständlich. Es ist aber ganz eindeutig, daß er, über polemische Spitzen hinaus, die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Leben mit einer neuen Gewichtung literarischer Darstellung, bildlicher Repräsentation und musikalischen Ausdrucks verbinden will.

Schon in den frühesten Notizen zu seinem Tragödienprojekt hat Nietzsche den schriftlosen Bedeutungstransport als ein Kennzeichen dramatischen Geschehens genommen. Er kehrt diesen, sofern musikalischer Ausdruck ein solches Geschehen bis zur Wirkung des Außersichseins und der Ekstase steigert, gegen die Entstehung der platonischen Philosophie als einer “Lesepoesie”. In der Tragödienschrift spricht er von dem romanhaft-prosaischen Charakter dieser Philosophie und setzt ihm das dramatische Geschehen entgegen, das sich zu einem tragischen Gleichnis der Welt zusammenschließt. Eigentlich läßt es sich nicht vertexten und literarisieren – vor dieses Dilemma sind die Rekonstruktionsversuche der “musikalischen” Tragödie gestellt. Dieses Dilemma gilt natürlich erst recht für die archivarisch-philologischen Leseübungen der alten Tragödie. Schriftlosigkeit, Nichtreproduzierbarkeit und die Negation institutioneller Konventionen gehen im symbolischen Transport des Tragischen Hand in Hand. Sie sind die entscheidenden Bedeutungsaspekte einer Ausdrucksform, die man als eine sich ereignende und als Aufführung erzeugende Macht deuten muß.

IV.

Aber erst als Nietzsche die Auffassung verabschiedet, Musik und Drama verstärkten sich in dem Druck, den sie aufeinander ausüben, gelangt er zur Einsicht, daß man sich den symbolischen Transport des Tragischen wenigstens als einen möglichen, wenn auch vielleicht nicht wirklichen Gegensinn von Ausdrucksformen vorzustellen hat. Erst der Gedanke nämlich, daß eine ästhetische Ausdrucksform einen formalen Gegensinn in sich enthalten kann, läßt ihr einen medialen Charakter zuwachsen. Und dieser läßt sich als bloße Verstärkung gar nicht kennzeichnen. Solange die Musik als Verstärkung dramatischer Wirkung verstanden wird, ist sie nämlich als Mittel zu einem Zweck bestimmt, der ihr äußerlich ist. Die Polemik gegen ihren Einsatz zur Illustration eines Textes kann dann gar nicht gerechtfertigt sein. Den Gegensinn symbolischer Ausdrucksformen muß und kann man nur als eine Exemplifikation der Gegenwendigkeit von Erschütterung und Entlastung in obiger Bedeutung verstehen. Er manifestiert diese Gegenwendigkeit, aber nun aus sich selbst heraus, und das heißt: als ein symbolisches Verhältnis. Es ist das Kennzeichen einer symbolischen Manifestation, daß die Entfaltung ihres formalen Gegensinns Schritt hält mit der Herausbildung der Gegenwendigkeit des Lebens selbst. Und erst dies eröffnet die Möglichkeit, daß das Verhältnis des Widerstreits, welches das Leben ist, zu einer gleichnishaften Verdichtung getrieben wird. Indem verschiedene “Sphären” des Ausdrucks sich zu einer Manifestation verbinden, verwandeln sich diese Sphären in ihnen selbst; erst diese Form der Verwandlung hat eine gleichnishafte Bedeutung, insofern sie die Selbstverwandlung des Lebens symbolisiert. Der symbolische Prozeß des Tragischen ist zu einer Manifestation geworden; so ist dem Leben seine Selbstdeutung nicht von außen angeklebt, auch ist sie ihm nicht einfach angedichtet. Nietzsche insistiert darauf, daß ein Gleichnis der Welt kein Phantasma der Welt ist und mit einem solchen nicht verwechselt werden darf.

Nietzsche gewinnt den Zugang zur symbolischen Exemplifikation des Tragischen erst durch seine These vom durchgängigen Doppelsinn der Sprache. In dieser läuft ein symbolischer Gegensinn zusammen und läßt sich zugleich als ein Ausdrucksprozeß festhalten. Insofern ist die Sprache nichts anderes als der Ort metaphorischen Übergangs verschiedener Sphären nämlich, als welche musikalische und visuelle Ausdruckssysteme zu verstehen sind. Nun sagt Nietzsche, indem er sich des Doppelsinns der Sprache erinnert, musikalischer Ausdruck sei unendlicher Verdeutlichung fähig. Er dient nicht einfach als Mittel, ein dramatisches Geschehen zu verstärken und die Teilnehmer an diesem Geschehen in Aufregung und Ekstase zu versetzen. Seine Verdeutlichung zeigt sich wirklich – etwa in rhythmischen Zeichen und in mimischen Gesten, welche ihrerseits wiederum metaphorisch gekennzeichnet werden können. Insofern musikalischer Ausdruck solcher Verdeutlichung fähig ist, lassen sich auch ihm selbst eigene Linien der Bestimmung und des Unterschiedenseins denken. Allein für sich genommen ist er nämlich von einer Allgemeinheit, die Nietzsche die “erschütternde Gewalt des Tones” nennt. Diese erschütternde Gewalt ist unfaßlich und unidentifizierbar; soll sie faßlich werden, dann muß sie sich schematisieren lassen. Und sein Schema gewinnt musikalischen Ausdruck in sprachlichen, in bildlichen und in mimischen Zeichen. Auch diese können zu Konventionen erstarren – aber nur, wenn sie die Verbindung zu ihrem unfaßlichen und allgemeinen “Untergrund”, wie Nietzsche sagt, verlieren.

In Entsprechung zur Annahme, musikalischer Ausdruck sei unendlicher Verdeutlichung fähig, meint Nietzsche, visuelle Ausdrucksformen könnten sich selbst depotenzieren und auf einen unsichtbaren Untergrund zulaufen. In der Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen treten also Grund und Figuration verschiedener ästhetischer Ausdrucksformen in ein inniges Verhältnis, das sich aufgrund seines gegenläufigen Richtungssinnes in seiner Reichweite steigern kann. Die exemplarische Form dieser Steigerung ist aber als ein Gleichnis der Welt zu verstehen. Nietzsche nennt die erschütternde Gewalt musikalischen Ausdrucks, der Sprache der Romantik verhaftet, die “Urmelodie” des Lebens; oftmals spricht er auch von einer bilder- und begriffslosen “Sprache des Herzens”. Als eine solche bleibt sie aber unfaßlich; sie wird erst interpretierbar, sobald sie in ein Schema der Welt übertragen und wenigstens metaphorisch festgehalten wird. In übertragenem Sinne läßt sich die “Urmelodie des Lebens” als eine lyrische Grundstimmung kennzeichnen, die sich in symbolischen Zeichen ihre metaphorische Verdeutlichung verschafft. Man darf nur nicht meinen, eine solche Verdeutlichung ließe sich als “objektive” Hülle einer derartigen Grundstimmung auffassen. Das Schema der Verdeutlichung einer lyrischen Grundstimmung kann in sprachlichen Ausdrücken sowohl als in visuellen Bildfragmenten und in mimischen Bewegungen statthaben. Es tritt an die Stelle einer Versunkenheit in eine unfaßliche Allgemeinheit, von der Nietzsche als der “Urmelodie des Lebens” spricht. Diese wäre als unmittelbarer Ausdruck des Lebens, nicht als eine irgendwie geartete adäquate Vorstellung unserer “Erscheinungswelt” zu verstehen. Als unmittelbarer Ausdruck des Lebens, nicht etwa als dessen blasse Idee, muß er sich immer noch verdeutlichen lassen, denn auch der unmittelbare Ausdruck des Lebens ist für sich genommen ungreifbar.

Das andere der Extreme, deren Vereinigung sich in der Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen vollzieht, ist in einer epischen Grundeinstellung zu suchen. Jedenfalls läßt sich diese, ebenfalls in übertragenem Sinne, als solche kennzeichnen. Und diese Grundeinstellung ist ebenfalls als eine Versunkenheit zu verstehen, aber nun nicht in eine ungreifbare Lebenstiefe, sondern in die Oberfläche der sichtbaren Welt und deren raum-zeitlich identifizierbare Begebenheiten. Als den idealtypischen Fall solcher Versunkenheit begreift Nietzsche das Auge und die Hand des Plastikers, welche die Oberfläche des Lebens zärtlich abtasten und diese in ihrer Rhythmik, in ihrem Gepräge und in ihrer mimischen Außenhaut als solche bejahen. Im Verlaufe eines gesamtkünstlerischen Ausdrucksprozesses wird diese Verklärung des Sichtbaren offensichtlich in eine Bedeutungsrichtung gerissen, die die Zeichen der sichtbaren Welt zum Verschwinden bringt. Das ist der Ort, an dem Hör- und Schauwelt, wie Nietzsche später sagt, verschwimmen und ein ästhetisches Gleichnis der Welt im Entstehen begriffen ist. Dieses ist nicht nur als eine Schematisierung von Erfahrungen zu verstehen, die bild- und begrifflos sind, umgekehrt ist es auch zu verstehen als Verschwinden der Faßlichkeit unserer Alltagswelt mitsamt den Schemen, in denen sie faßlich geworden ist. Ein solches Gleichnis der Welt ließe sich in Schopenhauers Begriffssprache als eine Vorstellung der Welt kennzeichnen, deren Bedeutsamkeit unabhängig von der Geltung des Satzes vom Grunde aufzufassen ist. Nur muß sich diese Unabhängigkeit eben auch in einem symbolischen Prozeß und in artifiziellen Mechanismen realisieren. Sie ist als Idee der Welt nicht einfach fertig da, um in der Kontemplation als “Weltauge” wiedererkannt zu werden. Aber auch Nietzsche ist es zuletzt nicht gelungen, den formalen Gegensinn eines gesamtkünstlerischen Prozesses wirklich zu begreifen. Schließlich führt er ihn doch nur als einen Verlauf vor Augen, in dem musikalischer Ausdruck “durch die Symbolik der Bilder und Affekte” gedeutet und metaphorisch umschrieben wird.

Wie immer dem sei, mit Bezug auf die Tragödie, das exemplarische Gleichnis der Welt, sehen wir die Gesamtentfesselung der symbolischen Kräfte des Menschen im Sprechgesang des Chores im Entstehen begriffen. Seine Botschaften sind, was sie sind, nur vermöge ihrer unmittelbar vollzogenen Artikulation; er führt die Einheit von Zuschauer und Akteur unmittelbar vor; und er praktiziert die Wirkung der tragischen Kunstform gleichsam an sich selbst. Er ist als punktuelle Verwirklichung “dionysischer Weltanschauung” zu begreifen. In dieser Weltanschauung formiert sich nicht etwa ein adäquates Bild der Welt, vielmehr ist sie als eine gesamtkünstlerisch sich vollziehende, metaphorisch sich von der Adäquatheit eines Bildes der Welt entfesselnde Poiesis zu verstehen. Und nun kann man fragen, von welchem adäquaten Bild der Welt diese Poiesis eigentlich entfesselt. Die Antwort auf diese Frage muß lauten: Wenn die Wahrheit faktischer Lebensvollzüge darin besteht, von Leiden und Widerstreit geprägt zu sein, dann ist es als der vornehmste Zweck eines Gleichnisses zu werten, das die Selbstentzweiung des Lebens symbolisiert, uns von dieser Wahrheit und ihrer adäquaten Vorstellung zu entfesseln. Leiden und Selbstentzweiung durchherrschen zwar jede individuelle Lebensform, sie sind als solche aber eigentlich gar nicht mitteilbar. Man kann sie nur von sich abscheiden, indem man das entzweite Leben als einen Kunstprozeß wiedererzeugt und in dieser Erzeugung die Faktizität der Entzweiung des Lebens irrealisiert.

Wir haben uns in der Gesamtentfesselung symbolischer Mechanismen, die sich zu einem Gleichnis der Welt verdichten, von den Fesseln zu befreien, in denen wir an den Fels der Faktizität des Lebens und dessen adäquates Bild gekettet sind. Das ist der prometheische Sinn, den Nietzsche seinem Kunstprogramm der Tragödienschrift gegeben hat. In dem prometheischen Sinn der Entfesselung von der Wahrheit gehen der symbolische Transport des Tragischen und die metaphysische Daseinsdeutung zu einem Gleichnis der Welt zusammen. Es ist nicht möglich, diesen Zusammenhang nach seiner kathartischen Wirkung uns seinen mimetischen Verfahrensweisen voneinander zu trennen. Nietzsche betont in der Tragödienschrift den “apollinischen” Sinn der Entfesselung von der Wahrheit des Lebens. Diesen “apollinischen” Sinn hat er später nicht etwa vergessen und aufgegeben; auch hat er ihn als metaphysisches Bedürfnis nicht einfach verworfen. Er hat ihn aber alsbald in erkenntniskritische Gedanken überführt. So erzwingen die Reflexionen darüber, in welchem Verhältnis sich Kunst und Leben eigentlich bewegen, Gedanken über die Mechanismen menschlicher Erkenntnis.